Auf Vortragstour rund um Social Video

Vortragsanfragen haben den Vorzug, dass man sich intensiver als sonst mit einem Thema beschäftigt, lose Gedanken verdichtet und so aufbereitet, dass Dritte etwas damit anfangen können. Sicher ist jedenfalls: Man weiß hinterher mehr als vorher.

Anfang des Monats war ich auf der Jahrestagung der Sportpädagogen in Münster. Das Thema „Wissenstransfer“ hatte mich angesprochen oder besser provoziert: Hochschulen generell und die Sportpädagogik im Besonderen sind aufgerufen, ihr akademisch produziertes Wissen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen bzw. dieses Wissen sinn- und nutzstiftend in der Gesellschaft zu verankern. Mein Vorschlag, die Wissensproduktion nicht als einen der Forschung nachgelagerten Akt zu betrachten, sondern als einen forschungsimmanenten (Design-)Prozess (Stichwort Design-Based Research), wurde überraschend wohlwollend aufgenommen. Ja, so müsste Sportpädagogik eigentlich forschen, wenn sie innovative Bildungsszenarien entwickeln will. Als dann einer der Keynote-Sprecher darüber aufklärte, dass man „diese Art von Forschung (bei ihm hieß sie „Symbiotische Transferstrategien“) nicht dem eigenen Nachwuchs empfehlen könne“, weil damit trotz Innovation die wissenschaftliche Reputation gefährdet sei, wurde mir klar: Das als richtig erkannte braucht einen belastbaren Erkenntnisrahmen und mutige Männer/Frauen, die diese Forschungspraxis dann auch durchsetzen! Insgeheim dachte ich mir: Was für eine Führungselite ziehen wir uns da heran, denen wir schon bei der Geburt sagen: Gehe den opportunen Weg! Ich verließ Münster also mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

In der dritten Juniwoche war ich auf dem Digital Change Summit an der Hochschule Mittweida. Herrn Prof. Dr. André Schneider ging es bei der Tagung darum, unterschiedliche Perspektiven auf Transformation zusammenzurufen und in den Austausch zu kommen. Ich steuerte einen Beitrag zu Social Video bei, indem ich erstmals von einem „kollaborativen Erfahrungs- und Beobachtungsraum“ sprach und damit u.a. Elemente des Forschenden Sehens aus unserem SCoRe-Projekt in die Diskussion einbrachte. Was ich wiederholt feststelle: Der anschauliche Einstieg über die Fußballtrainerausbildung mit Social Video im Blended Learning-Format gelingt immer, die Zuhörerinnen können sich ein Bild machen und folgen dann auch artig, wenn es steiler wird und ich von „Epistemischen Forderungen“ beim Forschenden Sehen spreche. Im Nachgang ergaben sich jedenfalls interessante Gespräche zum einen mit Prof. Dr. Thoralf Gebel aus dem Innovationsmanagement und zum anderen mit Prof. Dr. Werner Sauter, dem Social Video gut gefiel.

Ich sagte weiter oben, dass man nachher mehr wisse als vorher. Was weiß ich nun mehr? Zum Ersten bin ich immer wieder irritiert (das ist zurückhaltend), wie wenig kreativ wir mit der neuen Präsenz umgehen, d.h., irgendwie ist alles wie früher und wir tun so, als hätte es die Corona-Tagungserfahrung nicht gegeben. Wie wäre es, wenn wir mehr Barcamps machen, mindestens, oder gar wissenschaftliche Spaziergänge, nennen wir sie WorkWalks, bei denen wir „Meilensteine“ abarbeiten, jeden Kilometer ein Halt mit einer Station als Input und anschließender kollaborativer Reflexion beim Gehen. Es ist so viel Neues denkbar, wünschbar, machbar. Aber doch nicht wieder einfach nur in die Seminarräume zurück, ohne eine Idee davon, warum ich 600 km fahren soll. Zum Zweiten habe ich Hoffnung, dass DBR in der Sportpädagogik eine Chance hat. Hier tut sich was und wenn als politisches Sprungbrett der Wissenstransfer herhalten muss, dann ist es auch gut. Zum Dritten hat mir die Diskussion zum Erfahrungs- und Beobachtungsraum gezeigt, dass Social Video genau in diesen Begriffsdimensionen seine Potenziale ausspielt, um ein besseres Verstehen des Sachverhalts und eine bessere Verständigung untereinander zu erzielen. Jetzt müssen wir das nur noch alles handsamer formulieren und gute Beispiele entwickeln, gerne aus dem Umfeld der beruflichen Bildung!

Und ja, was ich noch „erfahren und beobachtet“ habe – ganz ohne Social Video – ist: Der Osten ist schön!  

DFB-Akademie – Alles mutig!

Gestern war ich zusammen mit Christopher Branch in Frankfurt am Main. Florian Huber und Maik Halemeier (Bereich Trainer- und Expertenentwicklung) vom Deutschen Fußball Bund e.V. hatten uns eingeladen, damit wir die Köpfe zusammenstecken, und zwar zum Thema E-Portfolio bzw. Trainertagebuch.

Hintergrund ist die Neukonzeption der B+ Lizenz, bei der mehrere didaktische Neuerungen zum Einsatz kamen: Blended Learning-Struktur mit synchronen und asynchronen Phasen und multiplen methodischen Elementen, aber eben auch ein innovatives Assessment, also das, was wir bisher Prüfung nannten. Bisher? Ja, es geht eben nicht mehr um die große „harte“ Prüfung zur Selektion am Ende (kennen wir aus Schule und Hochschule), sondern um ein prozessbegleitendes Bewerten und Feedback-Geben zum Zweck des Besser-Werdens, kombiniert mit einem Abschlussgespräch, in dem die Artefakte der Bildungsreise präsentiert und begründet werden (mithilfe des Portfolios) sowie um einen reflexiven Blick in die Zukunft – gemeinsam mit Experten:innen, alles ohne Noten, versteht sich!

Der DFB setzt damit mutig um, was von Seiten der Bildungswissenschaft seit langem gefordert wird: Assessment, um besser zu werden, nicht zur Selektion, die jedes höhere (oder tiefere Lernen) abtötet. Und natürlich wirft ein solcher Ansatz Fragen auf, die noch beantwortet werden müssen: Wie werden leistungsschwächere Personen identifiziert? Wie werden daraufhin Entscheidungen (z.B. über Selektion) getroffen? Und ja, darüber muss man sich Gedanken machen, denn Leistung ist ein Lebensprinzip für den Fußball. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass die Leistungsentfaltung im Klima der „Förderung“ um den Faktor X höher ist (Leute machen 3mal so viel freiwillig!), und hier bleiben selbst die „Schwächsten“ oberhalb des Mindestniveaus – das ist der Trick!  

Es ging also um E-Portfolios: Uns allen ist wichtig, dass dies ein Prozess ist, der die eigene Entwicklung unterstützen soll: die Entwicklung des (reflexiven) Bewusstseins und natürlich auch die Entwicklung der Fachkompetenz. Wie kann man das technologisch unterstützen? Indem man die Denkspuren im DFB Online-Campus sammelt, diese den Erkenntnissprüngen zuordnet und so „Entwicklung“ sichtbar und begründbar macht. Daran arbeiten wir …

Dieses neue, mutige Denken zeigt sich nicht nur in der Gestaltung von Bildungsgängen, sondern auch in der Architektur der neuen DFB-Akademie: Zu sehen sind lichtdurchflutete Räume mit offenen Funktionsflächen, die dazu einladen, Präsenz neu zu erfinden! Wir haben in der Pause an unserem Arbeitstisch sowas wie Tischfußball gespielt. Ein Anfang ?.

Teambuilding

Einmal im Jahr treffen sich alle Ghostthinker zum Ghostcamp – einem Event in der Jahresplanung, das sich keiner durch die Lappen gehen lässt, wenn es denn irgendwie geht. Im Jahr 2022 ist das allein schon deshalb besonders, weil wir uns das erste Mal nach zwei Jahren wieder in 3D sehen konnten: ein Novum für alle, die sich bisher nur aus der Kachel kannten. Ort der Begegnung war das schöne Allgäu, also der Süden von Deutschland, in dem fast alle Köpfe zuhause sind.  

Von einer gewissen Flughöhe aus sehen solche Teamtreffen wahrscheinlich alle sehr ähnlich aus: Es ist eine Mischung aus Spaß, Kreativität, Information, Bewegung und Begegnung, die Kopf, Herz und Zusammenhalt bereichern, wenn es gut läuft. Um es kurz zu machen: Auch 2022 war die Stimmung bombig, es wurden gemeinsam Ideen entwickelt, Gaumen gefüllt und mit Pfeil und Bogen geschossen. Ich hatte auch keinen Zweifel am Gelingen: Rebecca (Gebler Branch) hatte die Planung in der Hand, Johannes (Metscher) unterstützte bei Zahlenwerk und Moderation, und die Ghostthinker machten aus wenigen Zutaten ein Festmahl. Aber all das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen will.

Inmitten dieser zwei Tage ging es auch um die Frage, worin jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin besonders gut ist und was jeder/jede für das Unternehmen Besonderes leiste. In Dreiergruppen gingen wir der Frage auf den Grund, und man merkt schnell: So ganz leicht fällt es einem nicht zu sagen: „Da bin ich besonders gut!“. Die Präsentationen der Gruppen zeigten daher dann auch eher allgemein auf, worin die Qualitäten der Personen bestanden, mit einer Ausnahme: Der junge Entwickler Phillipp sagte bescheiden-selbstbewusst im tiefbayerischen Tonfall etwa folgendes: „Ich habe ein X entwickelt, das wird vom Kunden besonders geschätzt und das ist schön für mich.“ Zum einen waren gefühlt alle von der Art berührt, wie Phillipp das sagte, … es war jedenfalls zum Umarmen. Zum anderen war er der Einzige, der die Wendung formulierte: „Ich (!) leiste“.

Warum ist mir das so wichtig? In einer Zeit, in der fast alles im Team, in der Gruppe, aufgeht, aufgehen soll, da gerät das „Ich“ in die Defensive, es gibt sogar eine Tendenz zur Scham, wenn man über das Ich sprechen soll (siehe oben), weil man die soziale Norm bereits verinnerlicht hat. Das Ich scheint eine überhebliche, jedenfalls unangemessene Position zu transportieren.

Aber: Zu einer Kultur der Leistung – zu der wir uns seit Jahren (mal abgesehen von FDP) alle überraschend leise bekennen – gehört neben dem Wir natürlich auch das Ich; ohne Ich kein Wir, ohne Wir kein Ich, was man glaube ich als dialektisches Verhältnis bezeichnen kann. Bei genauerem Hinsehen ist es aber noch vertrackter: Es gibt kein reines Ich, sondern das Wir ist für das Ich bereits Boden und Horizont! Und genau in diesem, wie ich finde gesunden, Sinne wollte Phillipp seinen Satz interpretiert wissen: „Ich habe etwas geleistet (natürlich auf der Grundlage unserer Arbeit), was von Kunden geschätzt wird (natürlich sieht der Kunde nicht nur mich), und das finde ich schön (natürlich kann ich diese Freude nur mit euch zusammen genießen). Woher ich das weiß? Phillipp hat den meisten Beifall bekommen ?. Mattering is not about if you fit or not, it is about being valued. (Peter Felten)

Und noch einmal: Was ist Präsenz?

Kennt ihr die Geschichte? Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: “Was zum Teufel ist Wasser?“

Ich hatte mir Ende des letzten Jahres zum ersten Mal die Frage gestellt, was das eigentlich ist: Präsenz. Ein wenig war der Blick auf Präsenz wie der Blick der Fische auf das Wasser: „Präsenz, was zum Teufel ist das?“ Eine erste Antwort habe ich Ende November 2020 bei Herbert Grönemeyer gefunden: „Kultur stützt die Menschen in ihrer Verzweiflung, Trauer, in der Lust, Freude, ihrem Lachen, ihrem Mut und ihrer Zuversicht“. Ersetzt man Kultur durch Präsenz, dann hat man eine erste Idee davon, was Präsenz vielleicht ausmacht.

2021 hat mich diese Idee nicht losgelassen, natürlich, weil auch 2021 von einer „Störung der Präsenz“ durch Corona durchzogen war. Anfang des Jahres habe ich mich zum ersten Mal bei einer Keynote beim LSB NRW getraut, meine eigenen Gedanken zum Thema zu formulieren. Die Kernthese war, dass die großen Sprünge beim Online-Lernen (Technologie, Didaktik, Organisation) durch Corona in den nächsten Jahren einen gewaltigen Innovationsdruck auf das erzeugen, was wir bisher Präsenz nennen. Einfach formuliert: Wenn ich schon 500 km zu einem Präsenztermin anreise, dann muss es auch „krachen“. Ein Vortrag mit Gruppenarbeit tut es dann nicht mehr, denn das geht online einfacher oder sogar besser. Um die Qualität der neuen Präsenz besser zu fassen, hatte ich den Begriff „Serendipity“ herangezogen, um (ganz im Sinne Grönemeyers) das Körperliche, Emotionale, Informelle und Zufällige in der zukünftigen Präsenz näher zu kennzeichnen, also etwas, was man nicht digitalisieren kann oder besser: nicht digitalisieren sollte!

Ich gebe zu: Serendipity war ein verbaler Handgriff, um überhaupt das „Wasser als Wasser zu erkennen“, d.h. über die Tiefenmerkmale von Präsenz als normativen (!) Begriff mehr zu erfahren. Offen und unbefriedigend blieb vor allem für die Verantwortlichen in Bildungsinstitutionen, was das nun genau heißt: körperlich, emotional, informell und zufällig.

In einem der letzten Redebeiträge dieses Jahr, auf der DFB-Jahrestagung Bildung, bei der über 100 Referenten:innen (edubreaker:innen) zusammengekommen sind, habe ich dann nochmal konkretere Bilder für das Neue gefunden: Ich spreche davon, (a) von Scheitern-Können, (b) Überrascht-Werden und (c) Gemeinsam-Schaffen.  

Scheitern zu können, halte ich für die zukünftige Präsenz für wesentlich. Warum? Weil vor Ort, in der Sportschule (oder anderen analogen Orten der Weiterbildung) Experten:innen und Peers vor Ort sind, um mich aufzufangen, „wenn ich hingefallen bin“. Präsenz legitimiert sich dadurch, dass man didaktisch provozierte Entgleisungen wieder in die Spur bekommt, denn genau das kann im Online-Modus schnell ins Auge gehen. Und ja, auch überrascht zu werden, schätze ich für die Zukunft der Präsenz als essenziell ein: Wenn Präsenz dem Scheitern-Können dient, dann sind Unsicherheiten, Ungeplantes, Überraschungen fast schon notwendige Folgen. Damit zukünftige Praxis nicht im Chaos endet, wird es wichtig werden, die Geschichten des Scheiterns als Bedingung für Empowerment zu deuten und im Team zu meistern, also gemeinsam etwas zu schaffen. Mit dieser Präsenz-Deutung wäre man einen Schritt näher an Neuwegs „Könnerschaft“, die im Zuge der Kompetenzdiskussion manchmal etwas zu kurz kommt. 

Für 2022 wünsche ich mir, dass wir noch mehr als bisher mit Formen, Funktionen und Formaten von Online, Präsenz und allem Hybriden dieser Welt experimentieren, um eine ganze einfache Frage besser zu beantworten: Wie kann man heute, im 21. Jahrhundert, lebendiges Lernen wahrscheinlich machen? Und was bedeutet das für einen Lehrbegriff, der ja nur eines im Sinn hat: Lernen zu ermöglichen?

„Wandel durch Werte“ – Keynote beim Deutschen Olympischen Sportbund

Einmal im Jahr kommt die gesamte DOSB-Community zusammen, also Bildungsverantwortliche, Jugendbildungsreferent:innen und Wissenschaftskoordinator:innen der Spitzenverbände und Landesssportbünde, Vertreter:innen der Trainerakademie, Führungsakademie, des Instituts für Trainingswissenschaft, der Deutschen Olympischen Akademie, der Deutschen Sportjugend sowie der Bundeswehr und Bundespolizei. Das „Fachforum Bildung“ ist genau der Ort, wo Ideen und Konzepte rund um die Aus- und Weiterbildung ausgetauscht werden und man sich einfach mal wieder sieht.

In Zeiten von Corona ist das mit dem „Sehen“ so eine Sache. Erstmals wurde das Fachforum komplett online durchgeführt, und zwar verteilt über fast eine Woche: Am Montag den 15.11. fiel der Startschuss mit Keynote (dazu kommen wir noch), Mittwoch dann eine Vertiefung mit Kleingruppenarbeit in Break-Out-Rooms und am Donnerstag eine Fish Bowl mit Reflexionen auf die gemachten Erfahrungen.  Die Evaluation ist noch nicht abgeschlossen, aber die Stimme einer Teilnehmerin ist mir im Ohr: „Wir haben intensiver diskutiert als in der echten Präsenz!“ … und genau damit sind wir beim Thema.

Ich hatte dieses Jahr die Ehre, die Keynote für das Fachforum zu halten (zur Video-Aufzeichnung geht es hier). Das ist nicht nur schön, sondern bedeutet auch die Übernahme von Verantwortung, denn: Antworten zu geben in dieser verstörenden Corona-Zeit mit ihrer Zwangsdigitalisierung, Ausdünnung der Körperpräsenz und vielen Unsicherheiten, was die Zukunft betrifft, ist und bleibt herausfordernd.

Um die Antworten nicht zu kleinteilig zu machen, habe ich die Zuhörer:innen auf eine Zeitreise mitgenommen. Angefangen bei der „guten alten Präsenz“ von 2007 über die Erweiterung des Bildungsraums im „Blended Learning“ seit 2010, der Corona-Zäsur von 2020 mit der reinen Online-Präsenz, der Erweiterung in Richtung „Hybrid-Lehre“ von 2021 bis in eine Zukunft, die ich ab 2022 mit dem Begriff „Hybrid Spaces“ markiere. Was ist durch diese Zeitreise gewonnen?

Zum ersten war so zu erkennen, dass die fortschreitende Ausdifferenzierung des Online-Raums mit seinen Lernpraktiken und immer neuen Tools (VR, Video360, Kollaborationswerkzeuge etc.) einen hohen Innovationsdruck auf die analoge Vorort-Präsenz ausübt. Überspitzt formuliert: Warum soll ich für einen Vortrag oder auch Kleingruppenarbeit 500 km zu einer Sportschule fahren, wenn das online gut, vielleicht sogar besser geht? Eine Lösungsperspektive sehe ich im Begriff „Serendipity“, also der Fokussierung auf Körperliches, Emotionales, Zufälliges und Informelles, denn das, so die These, kann man schlecht digitalisieren, darin liegt der USP des Sports vor Ort und damit auch seiner zukünftigen Bildungsmaßnahmen!  

Zum zweiten wollte ich mit der Zeitreise zeigen, dass bei jedem Übergang, bei jeder Station unser Handeln durch „Werte“ bestimmt ist. Der Wandel (von Station zu Station) fällt also nicht vom Himmel, sondern basiert auf Werten oder wird von diesen zumindest getriggert. Geliebte „Begegnung“ in der alten Präsenz, kompetenzorientierte „Wirksamkeit“ mit Blended Learning, neue „Flexibilität“ durch Online-Präsenz bzw. Hybrid-Lehre. Und wovon wollen wir uns in der Zukunft leiten lassen?

Mein Vorschlag: Nicht von monolithischen Werten wie Begegnung oder Kompetenz oder Flexibilität, denn das unterminiert die Komplexität der Zukunft. Wie wäre es mit „Lebendigkeit“? Dieser intuitiv erfassbare Meta-Wert hat viele Werte in sich, die als Spannungsbögen aufgebaut sind, also z.B. „Körper und Geist“, „analog und digital“ oder „Selbst- und Fremdorganisation“. Lebendig wird es dann, wenn wir diese Spannungsbögen (es gibt viele davon) nicht nach einer Seite „vereindeutigen“ (Männer neigen dazu ?), sondern gerade die Mehrdeutigkeit und Unschärfe, also ein „Dazwischen“, aushalten oder noch besser: anstreben!

Ich bin also gespannt, ob die Zeitreise geholfen hat: bei der Frage, was eigentlich aktuell los ist und wo die Reise hingehen sollte. Innezuhalten und nachzudenken, ist auf jeden Fall wichtig zumindest dazu sollte diese wilde Zeit gut gewesen sein. 

Sehen lernen!

Es gibt wenige Dinge, die uns so geläufig und fraglos sind, wie das eigene Sehen. Man schaut halt. Das erste Mal, wo mir diese Fraglosigkeit wirklich bewusst abhanden kam, war bei der Betrachtung von Kippbildern: Frauengesicht oder Kelch? Man kann beides sehen, je nach Aufmerksamkeitsfokus. Und wenn der Damm einmal gebrochen ist, dann ist kein Halten mehr, Perspektivität überall, egal ob ich eine Straßenkreuzung durch die Augen eines Autofahrers oder Kindes betrachte, einer Schiedsrichterin beim Pfeifen über die Schulter schaue oder mich in der Vielperspektivität des Themas Nachhaltigkeit einlese. Man fragt sich am Ende: Was ist das eigentlich, Realität oder Objektivität? Und wie erkenne ich sie?

Man sieht an diesem Beispiel: Das Sehen eignet sich an sich ganz gut, um daran methodische oder sogar erkenntnistheoretische Facetten zu erkennen oder auch zu erleben, was insbesondere für die Hochschule (aber nicht nur) und die Studienanfänger:innen von Interesse ist. Vor diesem Hintergrund haben Gabi und ich unsere Überlegungen zum Forschenden Sehen aus dem SCoRe-Projekt (vgl. letzter Beitrag) weitergedacht und in einem neuen Impact Free-Artikel Nr. 41 niedergeschrieben. Das Ganze ist ein work in progress und ich bin mir sicher, dass wir noch lange nicht am Ende sind, sondern eher umgekehrt die Tür in ein neues Forschungs- und Praxisfeld mit Videotechnologien gerade erst aufgestoßen haben. Sehen lernen ist etwas, was man ein zweites Mal lernen muss.  

Das Neue in die Welt holen

Am Donnerstag und Freitag hatten wir unser (digitale) Abschlusskonferenz zu SCoRe – ein vom BMBF mit über drei Millionen Euro  geförderten Projekt zum forschenden Lernen, bei dem Studierende unter Crowd-Bedingungen mit innovativen Videotechnologien zum Thema Nachhaltigkeit zusammen forschen sollen – online versteht sich. Es waren also alle Aspekte vertreten, die in der aktuellen Hochschullandschaft als bedeutsam eingestuft werden. Das Verbundprojekt verfolgt(e) noch dazu einen Design-Based Research-Ansatz, mit dem Erkenntnis mittels Entwicklung bzw. Design gewonnen werden soll, was methodisch ebenso herausfordernd wie interessant ist. Dieser Blogbeitrag ist eine gemeinsame Reflexion des im März 2022 endenden Projekts von mir und Gabi anlässlich der genannten Veranstaltung, welche die Abschlussphase des SCoRe-Projekts einleitet.

Angesichts der vielen passenden Stichworte und Innovationspotenziale haben wir 2018 unsere Erwartungen im Antrag recht optimistisch formuliert. Vielleicht ein wenig vollmundige haben wir auch die Vision von einem „Forschungsstrom“ entworfen, den wir durch intelligente Verbindungen der oben genannten Aspekte im Kontext der Virtuellen Akademie Nachhaltigkeit umsetzen wollten.

Und ja, das Projekt hat uns alle sehr weit aus unserer psycho-sozialen Komfortzone geholt: (a) Es gab zum Start keine „Didaktik der Crowd“, also keine Antworten auf die Frage, wie man (sehr) viele Studierende bei der asynchronen Zusammenarbeit durch Technologie unterstützt und durch direkte Hilfen unterstützen darf. (b) Es gab auch noch keine Lösung dafür, wie man forschendes Lernen konzipiert, wenn man dessen Definition sozusagen sprengt, weil Studierende nicht den ganzen Forschungszyklus durchlaufen, sondern nur (wenige) Unterphasen eines Teilzyklus. (c) Auch hatten wir keine Vorstellung davon, wie man 360-Grad-Videotechnologien und Social Video Learning (vgl. Andreas Vortrag) didaktisch einbetten muss, damit Studierende nicht nur „die Kamera draufhalten“, sondern Videografie als Forschungsinstrument zum Sammeln von Daten und Aushandeln von Perspektiven verstehen. (d) Schließlich wussten wir am Anfang auch nicht, wie wir das Megathema Nachhaltigkeit so herunterbrechen, dass Studierende aller Disziplinen in einen interdisziplinären Dialog treten. (e) Letztendlich hatten wir zum Teil wohl auch naive Vorstellungen davon, wie man all diese Aspekte des Nichtwissens in die Struktur eines DBR-Prozesses bringt, ohne dabei die Meilenstein- und Abrechnungsmodalität des BMBF zu ignorieren. Dass auch noch eine Pandemie genau in den Projektlaufzeit legt und an mehreren Enden ganz neue Rahmenbedingungen schafft, kam noch oben drauf, ohne dass man dies freilich je hätte vorhersehen können. Kurzum: Das SCoRE-Projekt hat(te) es in sich!

Die Abschlusstagung hat dann aber doch gezeigt, dass wir etwas geschafft haben! Da sind erstens neue Konzepte im Kontext des forschenden Lernens entstanden, die auf elementare Prozesse reduziert und in Richtung Forschendes Sehen weiterentwickelt wurden. Zweitens wurden im Projekt zahlreiche Text- und Video-Anleitungen zur Orientierung und Unterstützung innerhalb der Phasen und Aktivitäten erarbeitet. Drittens haben wir neue Assessment-Formate entwickelt, welche dem komplexen Lernprozess gerecht werden können. Viertens sind Evaluationskonzepte und Log-Technologien entstanden, die Lernspuren sammeln und darstellen können. Schließlich steht (wie geplant) die Lernumgebung „SCoRe-Docs“, mit der eine asynchrone Online-Zusammenarbeit mit Text, Bild und vor allem Videotechnologien ermöglicht wird.

Auf der Tagung haben auch viele von uns aus dem Verbund in Gesprächen festgestellt, dass wir nach drei Jahren nicht am Ende sind (und damit meinen wir nicht nur die noch verbleibenden rund 5 Monate), sondern im Grunde erst am Anfang stehen, denn erst so langsam verstehen wir, an welchen Elefantenrüsseln, -beinen und -schwänzen wir uns tastend bewegt haben (vgl. Die Blinden Männer und der Elefant). Ehe das Neue in die Welt kommt, muss man die Grenzen dessen erfahren, was man bisher für wahr gehalten hat.

Gabi und ich, die wir die Grundidee zu diesem Projekt „in die Welt gesetzt hatten“, gehen mit zweigeteilter Meinung in die Projektendphase (und bald aus dem Projekt): Zum einen sind wir beide sehr dankbar, auf Menschen getroffen zu sein, die verschiedene Auffassungen von Didaktik vertreten. Dadurch wurde der Blick für Konzepte frei, die weniger den Einzelnen, als vielmehr das Kollektiv in den Blick nehmen und auch die Rolle von Steuerung in einem erweiterten Problemlöseraum in Richtung Gesellschaft neu denken. Das hat Folgen für das Verständnis von Wissenschaft, für die Qualität von Bildungsprozessen – und zwar bei Lehrenden und Lernenden – und es hat Folgen für die Technologien, denen wir ja immer auch eine Idee von Bildung einhauchen (wollen). Zum anderen sind wir beide aber auch enttäuscht, und zwar über das Verfehlen unserer sicher hehren Ziele (siehe oben): Wir wollten einen „Forschungsstrom“ als Outcome, haben aber nur einen „Forschungsrinnsal“ geschafft, zumal dieses Rinnsal auch noch als Beleg für das prinzipielle Funktionieren des Konzepts herhalten soll (oder muss).

Was antworten wir auf die Frage, warum wir für SCoRe nur so wenige Studierende gewonnen haben und beglücken konnten? Man ist schnell versucht, das auf die Nichtpassung der universitären Strukturen für solch innovativen Konzepte zu schieben. Und sicher ist das auch nicht ganz falsch. Aber man macht es damit doch auch zu leicht, denn: Zum einen ist das eine gewisse Selbstimmunisierung gegenüber Kritik, zum anderen verdeckt man hier die Chance, wirklich konsequent vom „Forschungsstrom“ bzw. von einer der Vision her zu planen. Wenn wir heute nochmal starten würden, dann wäre die erste (notwendige!) Bedingung die, dass man wirklich viele Studierende in eine forschungsähnliche Aktivität gewinnt. Und damit klar ist, wovon wir sprechen: Es sollten definitiv mehrere 100, ja vielleicht 1000 Studierende sein, denn dann brechen all unsere Routinen zusammen, die wir aus der bisherigen Didaktik kennen.

Eine solche (Selbst)Steuerung „der Vielen“ könnte man über virtuelle Raum- und Rollenkonzepte organisieren, also Räume mit bestimmten Arbeitsaufträgen und Prozessregeln, in denen dann Personen mit bestimmten Hüten aktiv sind. All das hatten wir in der SCoRe-Ideenphase im ersten halben Jahr schon ausgearbeitet (z.B. hier bei e-teaching.org), haben es aber dann unseres Erachtens viel zu früh verworfen. Warum? Weil wir „Raum“ vielleicht zu eng gedacht haben. Schaut man sich heute virtuelle Räume wie die Plattform Gather oder die Umgebung an, auf der wir unsere SCoRe-Tagung gemacht haben, dann sieht man, dass sich dort eine Vielzahl von Teilnehmenden selbstorganisiert tummeln und via Video-Chat austauschen, und man sieht auch, wo sie sich tummeln, was ungemein motivierend ist und die visuelle Koordination erleichtert, worauf auch Georg Müller Christ bei seiner Begrüßung verwies. Natürlich ist das nicht DIE Lösung für das Problem, wie man forschendes Lernen der Vielen mit Video zum Thema Nachhaltigkeit organisiert, aber es wäre ein anderer Zugang gewesen, Räume neu zu denken, was uns in Kombination mit 360-Social Video Learning in ein anderes Raum-Fahrwasser gebracht hätte.

Aber wie sagt man so schön: Was nicht ist, kann ja (vielleicht) in Zukunft noch werden.

Kindliche Zwickmühlen

Neulich fuhr ich mit meinem Einkaufswagen durch den Supermarkt, mit Maske, wie sich das in Corona-Zeiten gehört. Plötzlich fiel vor meinen Wagen ein Kinderspielzeug auf den Boden … ein Kindergesicht lachte mich aus einem Buggy an.

Ich spürte schlagartig zwei Impulse in mir: Der erste galt dem Kind und dem runtergefallenen Kinderspielzeug, was man ja als gut erzogener Mann direkt aufhebt, um es den Kleinen wieder in die Hände zu drücken. Der zweite Impuls galt der Mutter, die ihr Kind vor potenziellen Coronaviren fernhalten will und daher vermutlich böse wäre, wenn ich die Quietschente direkt in die Kinderhände zurückgebe.

Diese widersprüchlichen und in etwa zeitgleichen Impulse fühlten sich in Summe schlecht an: für mein emotionales Kleinhirn wie für mein reflexives Großhirn. Nach etwa 1,25 Sekunden rollte ich schweigend und ohne Handlung am Kinderwagen vorbei, ich ließ das Kinderspielzeug links liegen, die Mutter hob es auf.

Alles nicht schlimm, oder?

Ich erzähle das hier nicht, um es öffentlich zu verarbeiten ?. Nein, ich erzähle es, weil es mich an eine Geschichte erinnert hat, die mir ein Freund vor ein paar Wochen erzählte.

Dieser Kollege brachte seine Tochter zum Kindergarten, nachdem dieser sieben Wochen geschlossen war – eine Ewigkeit aus Kindersicht. Die kleine Tochter freute sich also riesig, ihre Freundin wieder zu sehen. Etwa zeitgleich wurde die Freundin von ihrer Mutter zum Kindergarten gebracht. Die beiden sahen sich. Die Tochter meines Freundes lief freudestrahlend und mit ausgestreckten Armen auf ihre Freundin zu. Diese bleib stehen, wie versteinert, versteckte sich schließlich hinter ihrer Mutter.

Was war geschehen? Die Mutter (inklusive ihres Mannes) hält es für besser, wenn sich die Freundinnen bis auf weiteres nicht mehr umarmen, der Corona-Virus lässt das nicht zu. Nun will ich gar nicht über das Für und Wider streiten. Fakt ist, dass beide Freudinnen bitter weinten, die eine weil sie überhaupt nicht verstand, warum sich ihre beste Freundin so verweigerte, die andere, weil sie gefangen war zwischen der Vorgabe ihre Eltern „ja nicht ihre Freundin zu umarmen“ und ihrer inneren Stimme, ihre Freundin nach der langen Zeit „so sehr umarmen zu wollen“.

Mich interessiert an diesem Bild genau die letzte Szene: diese emotionale Zwickmühle, dieser doppelte und widersprüchliche Impuls, der vielleicht eine schwache Ähnlichkeit mit meinen Impulsen oben hat. Nur mit einem wichtigen und entscheidenden Unterschied!

Während ich – ein Erwachsener – mir solche emotional-kognitiven Zwickmühlen einigermaßen gut umgehen kann, durch Abstrahieren, Analysieren, Distanzieren, verbleiben die Zwickmühlen bei den Kindern unverarbeitet, denn: Ich glaube nicht, dass trotz aller Erklärung der Erwachsenen auf emotionaler Ebene eine Klärung und Erleichterung „im Herzen der Kinder“ stattfindet.

Was also tun? Wenn man schon nicht will, dass sich die Kleinen umarmen – wofür es ja Gründe geben mag –, so müssen wir uns doch viel mehr Gedanken machen, wie wir solche Erlebnisse „zur Sprache“ bringen können. Vielleicht ist (explizite) Sprache auch der falsche Modus, vielleicht ist es eher das Rollenspiel, das den Kindern ein Ventil geben könnte, denn hier geht es um das große Feld des impliziten (Körper-)Wissens. Mir scheint, hier müssen wir hinschauen, gemeinsam, ohne viele Worte.

Döner und Dönerinnen

Es ist nun fast zehn Jahre her, als ich mich zum ersten und bisher einzigen Mal zum Thema Gendersprache unter dem Motto „Sprachgewalt“ geäußert habe. Das Credo von damals: Gendern zerstört die Ästhetik der Sprache und es bleibt dort ohne Wirkung, wo eine Bundeskanzlerin, eine Kampfpilotin oder eine Unternehmerin zur Normalität gehören.

Auch 2021 erscheint mir diese Position nicht falsch zu sein, aber wie immer ist das Ganze vielschichtig und verzwickt, weshalb es einer Aktualisierung bedarf.

  • Erstens sind da die pragmatischen Argumente, die auch Gabi in Rückgriff auf den aktuellen ZEIT-Standard aufgegriffen hat: Neben gleichgewichtiger Repräsentanz von Frauen und Männern in den Texten geht es ebenfalls und gleichgewichtig um Lesbarkeit, Schönheit, Tradition und Effizienz. Als Folge dieser Anerkennung von gleichrangigen Werten fliegen alle Sternchen, Unterstriche, Binnen-I etc. als Lösungsoption raus. Favorisiert wird ein Wechsel der weiblichen und männlichen Form als Basismodus und Doppelnennung dann, wenn es zur inhaltlichen Präzisierung beiträgt.  
  • Zweitens hat Rieke Hümpel in einem sehr lesenswerten Beitrag u.a. auf ein strategisches Argument hingewiesen, das weniger nach der Schönheit fragt, sondern darauf verweist, dass Gendern der Emanzipation (also dem Ausgangsinteresse) selbst schade! Wie das? Durch Gendern werde die Frau permanent in ihrer Geschlechterrolle angesprochen, was so klingen kann, als seien Frauen Opfer und bedürfen des besonderen Beistands.
  • Drittens lassen sich anti-libertäre Argumente ausmachen, die über das pragmatische und strategische Argument hinausgehen: Wer nicht ordentlich gendert, ist „anders“, und wer anders ist, wird ausgegrenzt. Darauf hatte auch schon Hümpel verwiesen; Schnell und pauschal läuft man auch bei gut begründeter Kritik Gefahr, als Frauenfeind, Querdenker oder gar Nazi beschimpft zu werden, … also schweigt man lieber und jeder weiß: Mit dem Schweigen beginnt der schleichende Tod unserer Demokratie –  großes Besteck also.

Neulich sah ich Ursula von der Leyen in einem Statement im Nachgang zum Sofagate-Fall: „Weil ich eine Frau bin!“ Sie sah in ihrem Frausein den Hauptgrund, warum sie auf dem Sofa und abseits Platz nehmen musste. Zwar lassen sich auch andere Gründe finden, aber von der Leyens lenkte den Blick geschickt vom persönlichen Einzelfall in Richtung all jener Frauen, die solche Verletzungen im Stillen, ohne Kamera, ohne Beobachter erleiden und aushalten müssen.

Wir alle – Frauen wie Männer – sollten aufpassen, dass wir den Frauen wie Männern auf den faktischen Spielfeldern des Lebens nicht die Stühle wegziehen (Achtung Metapher) und stattdessen den kollektiven Blick auf die kleinen Sternchen lenken, so wie Zauberer das allzu gerne tun, um das Wesentliche zu vertuschen. Umgekehrt glaube ich nicht, dass die kleinen Sternchen auch nur einen einzigen Stuhl an die richtige Stelle rücken; oft bleibt das eine akademische Turnübung. Schiefe Machtstrukturen lassen sich durch wechselseitiges Vertrauen Schritt für Schritt aushebeln und da hilft nur eins: anfangen, TUN, z.B. beim Thema Einstellungen (trotz Kinder). Unsere Sprache wird nach diesen Taten natürlich (ohne Zwangsverordnung) folgen.

Querdenken

Wenn man noch vor einiger Zeit in etwa sagen wollte, dass jemand „um die Ecke oder gegen den Strich denken“ kann, wenn man zum Ausdruck bringen wollte, dass dieser jemand sich nicht vom Mainstream leiten lässt, sondern „out of the box“, also jenseits der Grenzen mental agiert, die alle anderen für akzeptiert und normal halten, dann sagte man, dieser jemand sei ein Querdenker. Für solche Menschen – selbstredend Frauen wie Männer – gibt es im Englischen den Ausdruck „Wild Duck“ (vgl. auch hier), was nochmal darauf verweist, dass diese geistig „Wilden“ Widersprüche herausfordern, was den Umgang mit ihnen nicht immer leicht macht.

In den Nullerjahren habe ich mich länger mit dem Thema „Querdenken“ beschäftigt: Zum einen hatte ich damals zusammen mit Hermann Rüppell einen Aufsatz über geistige Besonderheiten von erfinderischen Menschen geschrieben (DANTE), zum anderen ging es in meiner Dissertation um das Thema analoge Kommunikation, also den Gebrauch von passenden Vergleichen und analogen Sprachbildern für die Wissensarbeit zwischen den Disziplinen. Kurz: In meiner Zeit war der Begriff Querdenker für Menschen reserviert, die eine besondere Form von Kreativität besaßen und damit komplexe Probleme lösten, die am Ende alle weiterbrachten.

Heute ist das anders.

Der Begriff wurde über Nacht geklaut, verdreht und für Menschen reserviert, die das Corona-Virus leugnen, Verschwörungstheorien in die Welt setzen und Rechte Gewalt gutheißen. Aus der Warte der Kommunikationsstrategie muss man sagen: Das ist schlau gemacht, denn mit dem Begriff Querdenker grenzen sich solche Gruppen positiv gegenüber dem „vernebelten“ Mainstream ab, also all jenen, die noch nicht die „wirkliche Wahrheit hinter dem Vorhang“ erkennen können.

Nun darf man in diesem freien Land solche Begriffspiraterie betreiben. Was mich ärgert ist, dass die Medien Land auf Land ab diese Bezeichnung übernehmen und pflegen und dabei offenbar nicht merken, dass das den – ja wie nennen wir sie denn nur – in die Hände spielt. Heute darf jeder und jede, die rechts und esoterisch denkt und handelt, sagen, ich bin stolz ein Querdenker zu sein.

Oh Mann, wie weit sind wir damit weg von Querdenkern wie Leonardo da Vinci oder anderen Menschen, die quer durch alle Wissensgebiete Erfindungen gemacht und neue Gedanken zusammengetragen haben, wie weit weg von dem guten Grundgedanken des Querdenker-Clubs mit fast 400.000 Mitgliedern, in dem das laterale Denken gepflegt und Ideen für das Innovationsmanagement in Organisationen ausgetauscht wurden. Ob wir den Begriff nochmal drehen können? Ich glaube nicht, denn ab jetzt hängt am Begriff „die dunkle Seite“, den Geruch bekommt man nicht mehr weg. Also lassen wir ihn fallen und denken uns was Neues aus, dass dürfte ja den „Wild Ducks“ nicht so schwerfallen.