Liebesbriefe im KI-Zeitalter

In der Neuen Züricher Zeitung stellt der Rechtswissenschaftler Richard Susskind in einem lesenswerten Beitrag u.a. fest: Wieso sind wir hier? Was heißt das für uns, wenn fast alles, was wir können, auch von einer Maschine erledigt werden kann?“ Das ist also die Frage: Wieso sind wir hier? Auf was können wir „stolz“ sein? Was ist das „Eigene“, wenn bei jedem (Denk)schritt Maschinen helfen? „Eigenleistung“ (Lenk) – für mich ein Referenzbegriff in der noch jungen KI-Bildungs-Grundsatzdiskussion, einer Diskussion jenseits guten Promptings.

Was ist das nun, das Eigene? Ich möchte das am Beispiel eines Liebesbriefs skizzieren. Liebesbriefe? In früheren Zeiten schrieb man der oder dem Geliebten einen handschriftlichen Brief, in dem man seine Zuneigung zum Ausdruck brachte. Das Schreiben war von der Hoffnung getragen, dass das, was man da zu Papier brachte, auf Gegenliebe stoßen möge. Das Problem an diesen Briefen war, dass sie sehr schwer zu schreiben waren, denn das, was man unscharf fühlte, war nicht in Worte zu fassen, und das, was man bereits auf Papier gebracht hatte, klang unendlich lächerlich. Bei ganz viel Mut schickte man den Liebensbrief dennoch mit der gelben Post ab und in der Regel wurde dieser vom Empfänger geschätzt, auch wenn das, was da stand, von einem Dreijährigen hätte stammen können. Wie kann das sein?

Es kam nicht so sehr darauf an, WAS im Brief stand, sondern: zum einen auf den Effekt, was die teils wochenlangen Wortfinde-Versuche mit einem selbst machten, zum anderen auf die vorweggenommene Reaktion: Es war dem Empfänger (vermutlich) klar, dass die Überwindung der Angst – das Coming-out – der eigentliche Zweck des Briefes war, und da schaut man gerne über holprige Formulierungen hinweg.

Was hat das mit KI zu tun? Ich glaube, im Zeitalter von KI werden Liebesbriefe, sofern man sich heute dieser Strategie noch bedient, anders ausfallen: „ChatGPT, bitte erstelle mir einen Liebesbrief für eine Frau mittleren Alters, spreche nicht zu gestellt, schreibe nicht mehr als eine Textseite und benutze Sprachbilder, die meine positiven Gefühle ausdrücken.“ Mit einem Klick hat man zumindest eine erste Vorlage, die man nach eigenen Gutdünken verbessern kann. Nach 5 Minuten könnte der Brief in der Post liegen. Der Empfänger würde sich beim ersten Lesen vielleicht über die geschliffene Sprache wundern, den Verdacht hegen, dass sich der Geliebte von ChatGPT hat helfen lassen. Damit stünde die Wirkung in Gefahr: Nicht die bebend-unsichere Stimme des Liebessuchenden spräche da, sondern die Duden-sicheren Worte einer Maschine, der sich der Autor wie ein Stützrad bedient. Und ja, natürlich könnte ich ChatGPT bitten, eine „Portion Unsicherheit“ in den Text zu bringen. Die Co-Leistung bliebe unentdeckt. Nur, was wäre mit mir? Hätte dieser Brief mich verändert? Könnte ich stolz sein?

Was beim Liebensbrief wie durch ein Brennglas erscheint, ist für mich ein Problem der KI-Bildungszukunft. Wie stolz können wir auf etwas sein, was wir nur mit ordentlicher Unterstützung haben produzieren können? Wo bleibt da der Sinn, die Eigenleistung oder mit Deci/Ryan, das Kompetenzerleben?

Ich denke, in einer Welt fortgeschrittener KI-Unterstützung wird es eine Wiedergeburt der Eigenleistung, der Echtheit, des Authentischen geben. Für mich ist das der Punkt, wo wir nochmal die Bildungsfrage neu stellen werden: Was will ICH wirklich lernen? Zu was will ich mich BILDEN? Im Portfolio der Zukunft werden solche KI-freien Eigenleistungen gesammelt wie Trophäen, ich wette!

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