Boundary Work … Was ist Entwicklungsforschung?

Gestern war ich seit langer Zeit mal wieder Teilnehmer in Gabis Doktoranden-Kolloquium. Thematisch ging es um die „Entwicklungsorientierte Bildungsforschung", so wie Gabi Reinmann und Werner Sesink es in bewusster Ergänzung zur empirischen Bildungsforschung nennen. Nach Besprechung von drei aktuellen Texten der Entwicklungsforschung (Einsiedler, Euler, Reinmann) kam mir die Aufgabe zu, die Entwicklungsarbeiten zu edubreak (Videoannotation in unterschiedlichen Kontexten) in einem Impulsreferat vorzustellen. Ich hatte mich dazu entschieden, die edubreak-Ereignisse chronologisch zu ordnen und möglichst nah am Phänomen darzustellen. In der Konsequenz habe ich daher ganz offen davon gesprochen, dass z.B. die Idee zur Einführung der Videoannotation im Sport zum ersten Mal bei einem Bier mit Kollegen Markus Söhngen vom TTVN formuliert wurde. Im Fortgang ging es um konzeptionelle Aufbauarbeit, um erste technische Prototypen, die wieder verworfen und durch neue ersetzt wurden, um erste Praxisanwendungen mit „leichtgewichtigen" Evaluationen (s.u.), um x-fache Redesigns von Didaktik und Technologie, um Erweiterungen organisationaler Elemente, um die Ausweitung in neue Kontexte mit neuen Anforderungen, theoretischen Vorschlägen und entsprechenden technischen und didaktischen Anpassungen, um Ordnungsversuche dessen, welche Kategorien beim Einsatz von Video + Annotation relevant sind und wie die unterschiedlichen Entwicklungs- bzw. besser Evolutionspfade untereinander „kommunizieren" und einen reichen „Genpol" an didaktischem, technischem und organisationalem Know How (Erkenntnis?) zum Thema bilden.

Es ist immer schwer abzuschätzen, ob eine solche „rohe" Entwicklungsgeschichte die Erwartungen der Zuhörer trifft, … aber darum geht es ja auch gar nicht. Am Ende habe ich die Frage gestellt, ob DAS Entwicklungsforschung sei, ob die Teilnehmer also in dieser edubreak-Geschichte diejenigen Kriterien wiedererkennen, die ihnen in den theoretischen Texten zur Entwicklungsforschung geläufig sind. Grob gesprochen waren die Rückmeldungen zweigeteilt: Die eine Seite erkannte durchaus einige Kriterien wieder: Problemorientierung, Zusammenarbeit mit Praxispartnern, mehrere Iterationen, begleitende „Forschung" (da komme ich noch drauf), Präsentation in der Fach-Community, letztlich Lösung eines Bildungsproblems. Die andere Seite erkannte diese Kriterien unscharf in der unsystematischen (da phänomenorientierten) Darstellung, tat sich zudem mit dem Merkmal „Forschung" schwer, womit wir beim Punkt sind :-).

Was ist also die „Forschung" innerhalb der Entwicklungsarbeit? Etwas Eigenes, Getrenntes? Also erst entwickeln und dann z.B. richtig (!) evaluieren? Explizierung aller Entscheidungen innerhalb der oft impliziten, rekursiven (chaotischen) Entwicklungsarbeit? Theoretische Fundierung und „saubere" Ableitung der Annahmen, Fragestellungen und Ziele? Hier springt der Frosch ins Wasser, würde Ulrich Fahrner sagen.

Mir selber geht und ging es gestern deswegen gar nicht um die Frage, wie man die Arbeiten um edubreak so darstellen kann, dass es in der Community als Entwicklungsforschung akzeptiert wird, also besser strukturieren, besser explizieren, ordentlicher evaluieren (Entschuldigung, da war meine Schlussfrage sicher irreführend). Sondern: Es ging mir darum gemeinsam zu explorieren, ob in den skizzierten Prozessen TYPISCHE Momente/Phasen zu identifizieren sind, die wir begründet als Entwicklungs-Forschung bezeichnen wollen! Dabei ist die Erarbeitung von Qualitäts- oder Gütekriterien für diesen Forschungstyp Neuland. Leicht erwischt man sich dabei, dass man analogisierend und hilfesuchend Gütekriterien aus der qualitativen Sozialforschung in diesen Bereich verlängert, deshalb die Forderung nach „richtiger" Evaluation, Explizierung der Entscheidungen etc.

Meine Grundthese (darin fließen Argumente der gemeinsamen Sitzung ein, vgl. Gabis Eintrag) ist, das wir im Rahmen einer entwicklungsorientierten Bildungsforschung mehr oder weniger AUCH chaotische, implizite und damit wenig bis gar nicht explizierbare Entscheidungen als typischen Forschungsakt akzeptieren bzw. einfordern müssen. Das stößt sich freilich mit dem Axiom einer letztlich mathematischen Wissenschaftsauffassung, die keine „dunklen Flecken" akzeptiert. Wenn uns aber Bildungsinnovationen (Sonderfall der sozialen Innovation) wichtiger sind als methodische Ideologien (also Vereinseitigungen), dann gilt es doch, die Methode sowie die Standards (der Entwicklungsforschung) den notwendigen Veränderungsprozessen anzupassen und nicht umgekehrt sich in die Irre führenden methodischen Imperativen unterzujochen.

Ja, mal wieder große Kaliber mit ansteckender Revolutionsrethorik. Wer sich hier anschließt, sollte mindestens einen langen Atem mitbringen, denn weder sind große Forschungsgelder, zeitnahe Akzeptanz in der wissenschaftlichen Community noch ein kalkulierbarer und „glatter" Forschungsalltag zu erwarten. Puhh, nix für Nachwuchswissenschaftler, … oder gerade doch?

Wiener Luft

Letzten Freitag/Samstag war ich Wien, um an der 7. Forschungswerkstatt von Peter Baumgartner und Josef Hochgerner teilzunehmen. Inhaltlich drehten sich die beiden Tage um das Thema „soziale Innovation", also etwas, was für meine Ohren zunächst einmal sympathisch klingt (nur eine Konsenzformel?). Mit ca. 12 Teilnehmer (6m/6w) war die „Forschungs-baustelle", wie es einer der Tn. nannte, überschaubar groß (gerade richtig). Neugierig war ich auf den Leiter des ZSI (Hochgerner), der in Wien mit den ZSI einen Forschungsverein mit 60 Mitarbeitern/innen geschaffen hat und der mir – so die latente Erwartung – etwas mehr zu den Geheimnissen der (sozialen) Innovationen sagen konnte. Ich muss gestehen: das Thema ist vielschichtig-komplex, die definitorische Arbeit noch im Gange, deskriptive und präskriptive Modelle noch am Anfang. Konsens besteht darüber, dass in unserer (modernen) Gesellschaft vielfältige Problemlagen zu finden sind (Arbeit, Zusammenleben, Gesundheit, Überalterung, Bildung etc.), welche nach schrittweise oder auch radikalen Lösungen rufen. Nach den zwei Tagen weiß ich, wie schwer es ist, relevante Lösungsideen (mit systemischer Wirkung) zu formulieren, denn die Frage der Relevanz setzt eine Vorstellung vom Ist-„Zustand", den Soll-„Zustand" sowie zu Veränderungsstrategien voraus. Zwar gibt das etablierte 4i-Modell eine gewisse Grundorientierung (Idee, Intervention, Implementation, Impact), doch wurde im Verlauf der Tagung immer deutlicher, dass dieses Modell nur die Spitze des Eisbergs oder wie ich es formuliert habe, die sichtbaren Seiten eines „Wasserstrudels" (Analogie) beleuchtet. Bei der Wasserstrudel-Analogie waren mir zwei Dinge wichtig: (a) die Unterscheidung zwischen dem, was oberflächlich (für alle) sichtbar ist und der nicht sichtbaren (impliziten) Ordnung sowie (b) das besondere Teil-Ganzes-Verhältnis, denn der Wirbel ist keine fremde Struktur im Fluss, sondern eine abgrenzbare Ordnung IM Fluss, die sich durch die Energie des Fluss speist. Hier viel abends im Gespräch mit Herrn Hochgerner das Stichwort „dissipative Struktur" (vgl.   http://alloqui-hominem.net/Systeme_Dissipative_Strukturen.PDF), vielleicht eine Anregung, um vor diesem (analogen) Hintergrund tiefer über die Natur der sozialen Innovationen nachzudenken.

Veränderungskultur, Change Agents, Erneuerung im hier diskutierten „sozialen" Sinne sind keine Hobbythemen von Unruhestiftern oder Effizienzfanatikern. Soziale Innovationen kommen vielmehr nicht ohne Fragen nach dem guten Leben, gerechter Entlohnung, kreativer Arbeit oder allgemein humanen Umgang mit Mensch und Natur, aus. Hier sehe ich im Übrigen ein hartes Abgrenzungskriterium zur „normalen" (meist) technischen oder betriebswirtschaftlichen Innovation. Am Ende machen diese normativen und gemeinwohlorientierten Ziele die Sache nicht leichter, aber es rechtfertigt, warum die Staatengemeinschaft in diese Projekte in den kommenden Jahren mehrere Milliarden Euro investieren wird.

bilden & branding

Am Mittwoch waren Johannes und ich auf der Tagung „kids & marke" in Köln, veranstaltet von der Europäischen Sponsoring Börse, Terbrüggen und spiel & sport team aus München. Wir haben von neuen Möglichkeiten der Real Time Response Analyse nun auch bei Kinderprodukten gesprochen (am Beispiel von Tech Pi und Mali Bu, siehe Bild), was für die Wissenschaft ebenso interessant sein kann wie für Werbetreibende – womit wir beim Thema sind. Auf dieser Tagung waren nämlich (mindestens) zwei Gruppen anwesend: die Einen, die einen klaren Bildungsanspruch haben und Kindersendungen z.B. beim WDR konzipieren und voranbringen; die Anderen, die mit Bildung wenig am Hut haben und primär danach fragen, wie man eine starke Markenprägung entwickelt, so dass der Konsum und damit die Umsätze steigen. So richtig gut können die beiden Parteien nicht zusammen, oder?

DASS diese beiden Gruppen und thematischen Ausrichtungen überhaupt auf EINER Tagung zu finden waren, ist ein Verdienst u.a. von Wolfgang Berchthold (Spiel & Sport team). Ihm war und ist es wichtig, dass sich Vertreter beider Welten begegnen, dass genau dieses Spannungsfeld sichtbar wird und die Vertreter ihre Positionen an Beispielen erläutern. Es war erstaunlich zu sehen, wie artig (und nachdenklich) alle zugehört haben, ich hätte gedacht, jeder wirft dem jeweils anderen „Weltvergessenheit" vor, dem war aber nicht so.

OB die persönlichen Entscheidungen der Teilnehmer an ihrer jeweiligen Arbeitsstätte TATSÄCHLICH anders werden, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich sehe schon einen Fortschritt darin, wenn man hin und wieder wahrnimmt, was in dieser Welt im Bereich Jugendmarketing der FALL ist: z.B. ganze Kindergeburtstage in lilly-fee rosa, Prinzessinenwahn überall bis zu Germans Next Top Model (für klein und groß) aber auch kritische Überlegungen zur Konsumideologie und zum Ausverkauf der Kindheit. „Lösen" kann man den Widerspruch von „bilden & branding" nicht, aber bewusst(er) damit umgehen, das kann auch nicht schaden.

Mitglied in der DRF … und die GOR 2012

Am Mittwoch war ich in Mannheim. Am Bahnhof angekommen, spricht mich eine Frau mit Namen an: „Ich bin Susanne" … ich sage, „jau, und ich bin Frank". Sie erklärt mir im Eiltempo, aber durchaus auf den Punkt gebracht, die Leistungen der DRF Luftrettung (Notfall, Hubschrauber, Krankenhaus). Ich akzeptiere alles und unterschreibe die Mitgliedschaft fürs Jahr bei einem Verein, der ohne Staatsgeld und ohne Autoschutzquerfinanzierung arbeitet. Ich bin zufrieden, fühle mich nicht überrumpelt, das Geld ist gut angelegt. Im Nachgang denke ich, warum das so schnell ging: es lag nicht an Susanne ;-) sondern daran, dass man in der Not genau diese Menschen braucht. Botschaft des Abschnitts: Mitglied werden!

Mannheim, GOR 2012 (online research), deshalb bin ich dort gewesen. Zusammen mit Jan Kercher und Marco Bachl von der Universität Hohenheim (Lehrstuhl Kommunikationswissenschaft / Brettschneider) hatten wir Ghostthinker bei der GOR ein Paper eingereicht, indem die Hohenheimer ihre Untersuchungsergebnisse zum MediaLiveTracker, unserer neuen webbasierten Videoechtzeitbewertung, präsentiert haben. Das Thema ist spannend, denn auf diesem Sektor gibt es nur sehr wenige und teure (offline) Systeme, die u.a. recht unflexibel sind. All das ist der MLT natürlich nicht, weswegen sich auch gleich im Anschluss an das Referat eine erste Kooperationschance aufgetan hat. Hier gibt es interessante Querbeziehungen zur Bewertung von Werbevideos, also etwas, was für am 21. März Köln auf der Tagung kids & marke vorstellen werden. Das hat zwar nicht mehr so viel mit Bildung zu tun, aber durch unsere systematischen Variationen bei der Videoannotaion bauen wir einerseits unsere technische und didaktische Kernkompompetenz weiter aus und eröffnen uns andererseits mit der Zielsetzung „Analyse/Forschung" neue Chancen, Produkte und Dienstleistungen an den Mann/Frau zu kriegen.

Kapitalisieren! Der ANDERE Sport

Die Vortagetage war ich zum ersten Mal auf der SpoBIS, Europas größten Kongress rund um die Themen Sportrechte, Sportmarketing und Sportsponsoring, also alles ökonomische Fragen. Von außen fällt direkt auf: Hier ist Geld, hier geht es ums Geld. Ca. 1.500 Männer (überwiegend) in schwarzen Anzügen und berockte Hostessen, viel blau-rotes Scheinwerferlicht und bekannte Namen aus dem Fernsehen.

Am ersten Nachmittag konnte ich im großen Hörsaal gleich mehrere „Topspeaker" hören: zunächst einen „1:1-Talk" mit DOSB-Präsident Dr. Thomas Bach: Gefragt wurde nach Olympia 2012, nach Fernsehrechten und nach den neuen Möglichkeiten der Vermarktung, die das Internet bietet; gerade hier böten sich neue Chancen für den Breitensport an. Im Anschluss hat der Geschäftsführer von Borussia Dortmund einen coolen Auftritt gehabt – cool, weil er authentisch aus dem Nähkästchen des Clubs gesprochen hat, von der gewaltigen Schuldenreduktion, der neuen Markenführung (Stichwort: echte Liebe) und wie er mit Klopp & Co die Geschäfte führt. Ich fand das sehr professionell und sympathisch.

Bevor der Marketingpreis des Sports 2012 vergeben wurde, hat Herr Kaiser (FASBO) die Trends im Sportmarketing skizziert. Er hat deutlich gemacht, dass die Zukunft (bis 2020) in der Nutzung des Rückkanals und damit des Internets liege; Facebook mit seinen 800 Mio. Nutzern spiele eine zentrale Rolle. Ich hätte rufen können: AnnotateMe! Habe ich mir aber verkniffen. Am Folgetag wurde dieser Ansatz (Social Media im Sportclub) nochmal in einer eigenen gut besuchten Session vertieft.

Was ich nach all dem Feuerwerk um Bindung der Fan-Community, Markenkommunikation und Rechtevergabe beachtlich fand, war das Fazit von Kaiser: Er sagt, dass der ökonomische Wert des Sports entscheidend davon abhängt, dass der Sport „sauber" gehalten wird. Damit meinte er nicht nur dopingfrei, sondern ich hatte den Eindruck, dass es ihm um den authentischen Sport ging, das echte, regelkonforme Wetteifern um einen von Zaum gebrochenen Streit. Würde dieser Sinnkern aufgegeben oder ausgehöhlt, dann wäre der Sport eben nicht mehr der „beste Werbecontent der Welt".

Ah, gibt es da doch eine Verbindung zur Sportbildung? Ja, aber nur vermittelt, denn das Marketing hat kein genuines Interesse am „sauberen Sport", nur am lupenreinen Ergebnis. Aber das Ergebnis fällt nicht vom Himmel, sondern wird von Sportlern, Trainern und Vorständen (und Fans) immer wieder erneuert und zwar vor dem Hintergrund einer Idee, der Idee des Sports. Leider gibt es zu diesem Thema keine Sesson auf der SpoBIS 2012, obwohl die damit verbundenen Fragen (Kulturelle Sportidee meets Business) immer wieder aufkommen! Z.B.: Wie weit darf man Fans mit Werbebotschaften traktieren? Wie stark darf ich sie in eine Community einbinden, ihr Profil studieren, dieses nutzen? Darf man Anstoßzeiten wegen besserer Vermarktung verschieben? Was sollte ich bei einem Spielertransfer beachten, gibt es Grenzen? Das sind alles Fragen, die nicht auf Ja/Nein-Antworten hinauslaufen, sondern nach „fairen Lösungen" rufen. Ich bin gespannt, ob der SpoBIS 2013 mal eine Session macht, zur „Business Fairness" oder zum „Think Green", wie man aktuell auch sagt.

Videoannotation und situierte visuelle Muster in der Lehrerbildung

Es ist nun ca. fünf Jahre her, seitdem wir die ersten Schritte mit der Videoreflexion bzw. Videoannotation gemacht haben. In der Zwischenzeit hatten wir intensiven Kontakt zu außerschulischen Einsatzfeldern (Sport, Fahrschule, Musik, Management etc.), nicht aber zur Lehrerbildung, wenn gleich der Einsatz von Video zur Reflexion und Planung des unterrichtlichen Handelns auf der Hand liegt. Auftakt in Richtung Lehrerbildung waren zwei Ereignisse: Zum einen gab es da die Tagung 2011 zur Professionalisierung der Lehrerbildung in Salzburg, auf der ich zusammen mit Reinhard Bauer von der Uni Krems unseren Ansatz (Videoreflexion durch Videoannotation) vorgestellt habe. Zum anderen konnten Gabi und ich einen Aufsatz zur Videoannotation im Jahrbuch Medienpädagogik veröffentlichen, indem in Verlängerung zur Forschungsnotiz 3 die Idee der „situierten visuellen Mustern" erstmals etwas ausführlicher vorgestellt und thematisch in die Lehrerbildung eingebettet wurde. Wir sprechen dort von einem „holistic approach", weil dieser Ansatz (Videoreflexion mit situierten Mustern) vorsieht, dass man mittels Symbolen und Annotationen die Planungs-, Durchführungs- und Reflexionsphase zusammenführen und als zusammenhängende „Ganzheit" betrachten kann – und zwar anschaulich durch die Videoszene/Kommentar UND abstrakt durch Kategorien. Wir erwarten bei der Umsetzung dieses zweiten Ansatzes ein besseres Gespür (Können?) der Lehramtskandidaten dafür, wie Planung, Umsetzung und Reflexion einander beeinflussen, und in welcher Beziehung z.B. soziale, räumliche und technischen Aspekte des Unterrichts untereinander stehen.

Ich bin sehr froh, das sich Wolf Hilzensauer von der PH Salzburg entschieden hat, im Rahmen seiner Dissertation genau dieses Thema nun auch empirisch anzugehen, d.h. den "holistic approach" aufzugreifen, ihn auszubauen und vor allem an die Situation in der Lehrerbildungin Österreich anzupassen. Damit wäre der edubreak®CAMPUS (und seine Didaktik) nicht nur in der Lehrerbildung angekommen, sondern würde auch eine qualitative Vertiefung erfahren.

„Eierlegende Wollmilchsau“ – Anmerkungen zu Peter Baumgartners neuem Buch

Wer das neue Buch von Peter Baumgarten in den Händen hält weiß: Didaktische Vielfalt ist kein leichtes Thema: 26 Dimensionen mit 130 didaktischen Prinzipien, 133 didaktische Modelle mit fast 300 didaktischen Aspekten bündeln sich in einer dicken, 1,1 Kilogramm schweren „Schwarte". Allein der Leitbegriff Taxonomie hört sich nicht nach Vermit-tlungshilfe an. Überhaupt scheint es Baumgartner nicht um Vermittlungshilfen im engeren Sinne wie bei Hilbert Meyer zu gehen, … wer hier schreibt, hat etwas anderes im Sinn!

Ich muss gestehen, dass ich länger mit diesem zentralen Sinn, den „Schlüssel" zum Verständnis des Ganzen gerungen habe: Das liegt daran, weil Peter den Leser fast ohne Pause mit auf eine steile Bergtour nimmt, in dichter Folge werden abstrakte Begriffe und Konzepte eingeführt: Taxonomie, Rekon-struktionsebenen, Beschreibungsstufen, modelltheoretische Anmerkungen, Mustersprache, dimensionale Analyse etc. Ohne Vorwarnung oder Training kommt man garantiert aus der Puste. Gut, man sieht, wie da ein „didaktischer Orientierungsrahmen" anwächst, wie sich die didaktischen Ereignisse von der Mikroebene der unterrichtlichen Interaktion bis zur Makroebene der Studienprogramme oder internationalen Bildungssysteme ordnen lassen. Wie sich in dieser Ordnung didaktische Prinzipen wiederfinden, die sich zu Modellen und „Modellfamilien" verdichten. Zwischen drin immer wieder interessante Vertiefungen oder Exkurse, z.B. zum Designbegriff oder zur wissenschafts-theoretischen Fundierung (z.B. Habermas, aber auch Hartmann, Polanyi und Schütz). 

Aber nach all den interessanten Sachen und sicherlich für die didaktische Forschung innovativen Einsichten habe ich mich dennoch (!) gefragt: Worum geht es ihm? Wo liegt der versprochene „praktische Nutzen", der auf den ersten Seiten in Aussicht gestellt wird? Ich meine, dieser aufschließende Sinn findet sich im letzten Kapitel, bei seinen Explorationen, dort erfährt man, warum Peter seinem Buch den Untertitel „didaktische Vielfalt" gegeben hat.

Und das funktioniert so: Der Clou seines langen Weges besteht darin, dass er mit seinem didaktischen Orientierungsmodell, den o.g. Dimensionen, Prinzipien und Modellen, eine Heuristik entworfen hat, eine Art „morphologischer Kasten", mit der sich Unterrichtswirklichkeit nicht nur analytisch beschreiben lässt, sondern mit der man die Begrenztheit seiner persönlichen didaktischen Modellierung erkennen, kreativ aufbrechen und qualitativ erweitern kann. Dieser generische Anspruch ist – glaube ich – der Kern des Buches, darin liegt sein praktischer Beitrag für den Praktiker, darin liegt sein theoretischer Beitrag für die Didaktik als Wissenschaft.

Insofern – und damit greife ich nur eine Wendung von Flechsig auf (siehe Nachwort) – ist Peters didaktischer Orientierungsrahmen, in den man „alle" (S. 22) Unterrichtsmethoden einordnen kann und mit dem sich „unendliche viele" didaktische Szenarien entwickeln lassen, eine Art „eierlegende Wollmilchsau" (Flechsig, 1996). Ja, man kann das jetzt als Hybris belächeln, aber ich glaube, Peter ist genau mit diesem sportlichen Anspruch gestartet (er würde es so wohl nicht sagen), d.h. er wollte Grenzen überwinden und das ist auch gut so, denn nur wenn man nach „anspruchsvollen Zielen schießt" (S. 329) kommen Sprünge und keine Hüpfer heraus, die uns neue Marschrouten eröffnen.

Wild Duck oder besser: Exzellenz für alle!

Kurz vor Weihnachten bin ich im Internet über Gunter Dueck „gestolpert", soll heißen: ich kannte den guten Mann vorher nicht und beim Surfen bin ich dann beim re-publica Vortrag gelandet. Anfänglich fand ich den slapstickreifen Vortragsstil amüsant, viele „ähhhs", „ich will doch nur sagen" oder „verstehen Sie mich richtig". Aber das ist nur die Oberfläche! Inhaltlich bietet Dueck provozierende Kernthesen: (a) Die Dienstleistungsgesellschaft wird sterben und (b) ohne wirkliche Professionalität können wir einpacken. Nach dem Videovortrag habe ich mir zwei Bücher von ihm bestellt und zwischen den Jahren gelesen: In „Aufbruch" und „Empirische Philosophie" wird u.a. erläutert, wie sich Duecks das mit dem Niedergang der Dienstleistungsgesellschaft genau vorstellt. Zentral ist die Beobachtung, dass fast alle Arbeitstätigkeiten, ausgehend von der Landwirtschaft über die Industrie bis eben auch Dienstleistungen, vermessen werden können. Der Computer (das Intenet) schafft dann das, was in der Landwirtschaft einst der Traktor geschafft hat: Standardisierung und (finanzielle) Optimierung nehmen ihren Lauf. Am Ende dieser Entwicklung finden sich – so Duecks – zwei Klassen von Menschen wieder: Billigarbeitskräfte, die für 8,- Euro Lohn die Stunde (bestenfalls) einfache Tätigkeiten verrichten, und die Premiumklasse, die sich mit nicht-standardisierbaren Problemen für hohe Honorare verdingen. Man folgt Duecks an dieser Stelle nur unwillig, einerseits weil man in die aufblühende Dienstleistungsgesellschaft große Hoffnung steckt, andererseits, weil man das Endszenario vom Dump & Premium moralisch nicht akzeptieren kann. Aber seine Argumentation erscheint mir zwingend und durch viele Beispiele geerdet.

Einen „Ausweg" aus dieser schwierigen Situation (Existenz!) sieht er in einer radikalen Steigerung der Bildungsaktivitäten. Schulen seien aber – was ein Wunder – auf diese Herausforderungen nicht vorbereitet, dort würde man sich noch um den eindimensionalen Menschen bemühen, d.h. dort geht es primär um die Befüllung der mentalen Festplatte mit Fakten. Genau diese Faktenkompetenz sei aber nicht das, was in einer Gesellschaft der Professionellen (Wissensgesellschaft) gebraucht würde! Unter Professionalität versteht er das Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Kompetenzen, wobei er nicht das Begriffsgerüst der wissenschaftlichen Diskussion aufnimmt, sondern unterschiedliche Ansätze wie Kreativität, Teamkompetenz, Willensbildung, Begeistung, Empathie, emotionale Kompetenz etc. „mischt", so wie es eben in der (Wirtschafts)Praxis gebraucht werde und wie es praktisch handhabbar sei. Obwohl ihm die Unterschiede der Menschen, deren Charakter und mentalen Vorlieben, sehr bewusst sind (in seinem Buch Empirische Philosophie unterscheidet er 16 Typen mit Untergruppen) pendelt sich das Bildungssoll doch irgendwo bei einem „entrepreneur" ein, der Probleme kreativ lösen, Teams empathisch leiten und Produkte/ Dienste mit guter „Perfomance"verkaufen kann. Vor dem Hintergrund dieser anspruchsvollen Zielfunktion misstraut er allen klassischen Bildungsinstitutionen. Vielmehr sieht er neue Bildungsmöglichkeiten „im Netz", die viel mit Video zu tun haben, dem neuen Leitmedium der jungen Menschen.

Was soll man nun davon halten, vom ehemaligen Chief of Technology (bei IBM) und Matheprof., von seinen Thesen zur Dienstleistungsgesellschaft, den Forderungen nach einer radikal anderen Bildung, dem „Aufbruch"? Die Analyse zur Dienstleistungsgesellschaft ist echt lesenswert, mir waren die Abhängigkeiten, (Optimierungs-)Mechanismen und Folgen vorher nicht so klar. Der Aufruf zu einer anderen Bildung (multiple Kompetenzen) ist von der Stoßrichtung nicht neu, neu ist die skizzierte Bedrohungslage und die geforderte Radikalität nach dem Motto: Wenn wir das nicht schaffen, gibt es sehr viele Verlierer. So bleibt Duecks Ansatz für mich unterm Strich "düster" (hmm, passt auch nicht so recht): einerseits weil er die Entwicklung in dunklen Farben zeichnen (ok, das ist die nüchterne Analyse), andererseits weil seine Vision von der neuen Bildung, der „Exzellenz für alle!", neben den Forderungen nach multiplen Kompetenzen (s.o.) und Netzinfrastruktur in der UMSETZUNGSperspektive dünn bleibt. Es fehlen Strategien für die JETZIGE Schule, die JETZIGE Universität oder aber Transformationsstrategien. Transformation? Machmal – so Duecks – ist es besser, wenn man ganze Teile eines Systems zerstört; dann, so sein mathematisches Kalkül, wird sich das System effizienter neu „einpassen".

Hmmm, ich verlasse Duecks Analysen und Visionen mit gemischten Gefühlen. Seine Bücher (es gibt noch mehr, eher philosophisch z.B. seine Trilogie) waren mir über Weihnachten und Neujahr ein ständiger Begleiter, auch ein paar Mails mit dem Autor selbst waren dabei. Aber trotz Düstergefühle: Ich nehme Vieles mit von diesem „Wild Duck", z.B. den Mut, das Nichtmessbare (vgl. unsere Vereinstagung, 2007) ins Zentrum aller Bildungsbemühungen zu stellen. Ein guter Start in das Jahr 2012.  

DOSB will Bildungsprozesse mit digitalen Medien fördern

Der organisierte und gemeinwohl-orientierte Sport ist mir wichtig, da mit und im Sport Bildungsprozesse stattfinden, die im "Kopfunterricht" nicht zu bewerkstelligen sind. Der Sport bietet eine eigene "Einflug-schneise" (so Martin Schönwandt) für Bildungsprozesse. Zusammen mit unserem Engagement der letzten fünf Jahre im Tischtennis (TTVN, WTTV, DTTB) zur Förderung der Trainerausbildung mit „2.0-Charakter", ergibt das einen schönen Hintergrund für ein aktuelles Projekt, was wir im Dezember 2011 (vorerst) abschließen konnten.

Die Ghotthinker haben den Deutschen Olympischen Sportbund e.V., immerhin die größte Personenvereinigung Deutschlands, dabei unterstützt, einen Verbundantrag aus der bmbf-Förderlinien auf den Weg zu bringen, bei dem es um Bildungsprozesse durch digitale Medien im organisierten Sport geht. Beteiligt sind sechs Institutionen, die je verschiedene Teilziele anstreben: So will sich z.B. der Deutsche Turner-Bund e.V. um die Entwicklung von innovativen Verfahren der Content-Produktion kümmern – eine Sache, die auch in Web 2.0-gestützten Lehrgangsformaten von hohem Interesse ist. Der Deutsche Tischtennis Bund e.V. möchte seine Erfahrungen der letzten Jahre im Bereich Blended Learning ausbauen und konzentriert  sich auf eher unspektakuläre aber bedeutsame Verbesserungen der Didaktik auf der Mikroebene, z.B. auf das Aufgabendesign im Verhältnis zu unterschiedlichen Lernwerkzeugen aus dem Umfeld des Web 2.0. Der Landessportbund NRW e.V. fragt in seinem Teilprojekt danach, welche Erfolgsdimensionen es bei Implementationsprozessen gibt, wenn man E-Learning „ganzheitlich" in Sportorgansiationen einführen und nachhaltig betreiben will. Hier gaben die Arbeiten von Euler und Seufert (Schweiz) wichtige Impulse zu einem integrativen Implemenations(vor)verständnis. Das Institut für angewandte Trainingswissenschaft e.V. in Leipzig will mit seiner großen Nähe zum Spitzensport und zur Gruppe der Berufstrainer/innen eine Professional Community aufbauen, um den Erfahrungsaustausch zwischen den Trainer/innen und den Betreuungsteams zu verbessern. Dabei spielt das Thema der Austauschsicherheit eine zentrale Rolle, denn Spitzensport bedeutet Wissenswettbewerb. Der DOSB selber möchte sich dem Aufbau eines Bildungsportals widmen, indem einerseits zentrale Informationen zu den Lehrgangslizenzen gemanagt werden, die wiederum der Qualitätssicherung der Lehre dienen; andererseits soll das Bildungsportal der zentrale und integrale Marktplatz aller Wissensressourcen und 2.0-Services sein, die aus den Teilprojekten entstehen. Der Professur für Lehren und Lernen mit Medien (UniBwM) kommt bei einer erfolgreichen Förderung die Aufgabe zu, Prozesse und Produkte zu evaluieren und das DOSB-Team bei Fragen rund um das Thema Lehren und Lernen mit digitalen Medien zu beraten, was einer wissenschaftlichen Begleitung gleichkommt.

Wie erwähnt, konnten die Ghostthinker in diesem Antragsverfahren unterstützend bei den inhaltlichen Planungen mitwirken und den Projektpartnern bei der Verschriftlichung der Anträge helfen. Mir selber hat dieser Coaching-Prozess mit vielen Online-Meetings sowie mit unterschiedlichen Partnern große Freude gemacht. Ein Dank geht an dieser Stelle an Wiebke Fabinski (DOSB), mit der ich in den letzten Monaten gut zusammengearbeitet habe. Kurzum: Vielleicht kann ich Beratung und Coaching 2012 weiter ausbauen. Gewollt war das schon immer.

Bieri zu Weihnachten

Ich war gestern nicht Weihnachtsgeschenke kaufen (wie geplant), sondern habe das neue Buch von Peter Bieri gelesen, heimlich, … ich habe es Gabi aus der Tasche stibitzt, die es von ihrem Mitarbeiter/innen zu Weihnachten geschenkt bekommen hat.

Das Buch trägt den schlichten und unzeitgemäßen Titel: Wie wollen wir leben? Darin enthalten sind drei Vorlesungen, in denen danach gefragt wird, WAS ein selbstbestimmtes Leben sein kann, WARUM Selbsterkenntnis wichtig ist und WIE kulturelle Identität entsteht. Das sind große Fragen, die man aus der Philosophie kennt, Bieri ist Philosoph. Aber die Art und Weise, WIE Bieri die Fragen entfaltet, sie "frag/würdig" werden lässt, wie er tastend (nicht belehrend) Antworten anbietet, zeigt, dass es ihm um eines geht: Bildung … und Bildung bei Bieri heißt: aufwachen, zu sich kommen, seine eigene „Stimme" finden. Stimme, eine schöne Metapher, weil das was mit Selbstausdruck zu tun hat, mit Resonanz, die entsteht, wenn ich mich zur Welt in ein BESTIMMTES Verhältnis bringe.

Das Buch liest sich mit Gewinn, wenn man die (intimen) Fragen für sich zulässt, die Bieri dem Leser stellt. Im Zentrum der ersten Vorlesung steht beispielsweise das Selbstbild. Warum ist einem z.B. Anerkennung so wichtig, warum beantworte ich einen Brief (eines Freundes) nicht, warum schäme ich mich für etwas. Bieri fragt an dieser Stelle eindringlich und hartnäckig, weil die Klärung dieser Fragen dazu führt, dass ich die Facetten meines Denkens, Fühlens und Wollens besser verstehe, dafür Gründe finde! Überhaupt scheint mir, dass es Bieri darum geht, Gründe zu finden, um aus der Ohnmacht (von innerer und äußerer Tyrannei) in den Zustand der Selbstständigkeit und zunehmender Selbstbestimmung zu gelangen. 

All das, was Bieri schreibt, ist nicht neu! Man kennt es aus dem Pool der Bildungsliteratur: Selbstbildung und auch die Rolle der Sprache bei Humboldt, Selbstbestimmung und Aufklärung bei Kant und vielen anderen. Aber die Frage, wie wir unser Leben leben wollen, ist und bleibt (überlebens)wichtig und wie so oft muss es erst persönlich oder global „knallen", ehe wir wieder auf schlichte Fragen hören.