Der Kern unserer Arbeit bei Ghostthinker besteht darin, Menschen in Bildungsorganisationen (insbesondere Sport) für „Social Video Learning“ zu begeistern und ihnen bei der tatsächlichen Umsetzung zu helfen, kurz: dass sie Videos drehen (auch Videos, auf denen sie selber zu sehen sind), dass sie Videos kommentieren (kommentieren heißt interpretieren) und dass sie Videokommentare von anderen kommentieren (re-kommentieren heißt aushandeln). Wenn man will, dann kann man in dieser „Videoarbeit“ bedeutsame Lernmöglichkeiten entdecken, angefangen von der Beobachtung zweiter Ordnung, über die Explikation von implizitem Wissen und das identitätsstiftende Aushandeln von Meinungen bis zur Schaffung von organisationaler Kohärenz. Das steckt also alles da drin, in diesem Social Video Learning – potenziell!
Zwischen dem Potenzial und der Realität gibt es freilich eine Kluft. Die ist in Sportkontexten klein, weil die Videokamera ein „Freund“ aller TrainerInnen ist, die bei der Beobachtung hilft. In universitären Kontexten ist die Kluft mittelgroß, weil das Thema Lernen „an sich“ dazu gehört und man sich mit guten Gründen nicht verweigern kann. In Ärztekontexten ist die Kluft z.B. groß, weil Ärzte berufsbedingt an eine Nullfehler-Kultur glauben (müssen), was aber den selbstreflexiven Umgang mit Fehlern und Videokamera erschwert.
In der Forschungswerkstatt von Peter Baumgarten haben wir über dieses Thema gesprochen, über den Umgang mit Videos, über die Bereitschaft (oder auch Verweigerung), Videos auch in informellen Situationen zu drehen. In Verlängerung hätten wir auch über die Bereitschaft sprechen können, warum man Videokommentare macht oder eben nicht. Das ist ein psychologisch interessanter Punkt, denn rein technisch ist es ja kein Ding, den Knopf zu drücken.
Nun ist die „Unlust zur Kommentierung“ nichts Neues. Man schaue sich nur die Weblogs an (selbst die wissenschaftlichen): Man erkennt, dass es nur Vereinzelte tun, im Übrigen Wiederholungstäter. Es sind diejenigen, die bereits im Netz unterwegs sind. Wer schweigt, der schweigt auch hier, wohlbegründet, interessenlos oder aus Angst.
Ich glaube, einer der wesentlichen Punkte beim Thema Kommentierung ist Vertrauen. Deshalb vermute ich in offenen Lernumgebungen weniger Kommentare als in geschlossenen. Ein anderer wesentlicher Punkt ist der Grad an Selbstzentrierung: Ganz schwer sind Bewerbungsvideos, in denen sich z.B. Schüler selber sehen und gegenüber einer sozialen Norm rechtfertigen müssen. Gut gehen Videos von Sportlern im Trainerkontext, in denen z.B. der Umgang mit einem Ball oder einem Schläger im Zentrum steht. Zwar sind die Akteure abgebildet, aber die Persönlichkeit steht nicht auf dem Spiel, sie ist dezentriert. Entsprechend leicht von der Hand gehen Videos, in denen z.B. nur Finger oder gar die Power-Point-Folien zu sehen sind.
Und was ist mit der Bereitschaft, Videokommentare zu erstellen? Ich dachte erst, dass die Bereitschaft zur Kommentierung in einem inversen Verhältnis zur Selbstzentrierung steht. Aber das ist Quatsch. Erklärvideos werden kommentiert und auch eigene Vortragsvideos werden kommentiert, nur: Man muss gut darauf achten, dass die Inhalte etwas mit den Personen zu tun haben, die kommentieren sollen. „Zu tun haben“, die Schweizer sagen „es törnt mich an“. Dieses Antörnen ist aber hier anders gemeint als z.B. bei einem Werbevideo, indem alle Antworten bereits gegeben sind. „Antörnen“ im Kontext der Videokommentierung ruft nach Video-Situationen, die zu mir sprechen, mich fordern, die Klappe auf zu machen, mit Fragen, Antworten, Widerspruch, Zustimmung. Mich mit den Videosituationen „in ein (reflexives) Sprachverhältnis“ zu setzen, alleine oder mit anderen, darum geht es und deshalb hat Social Video Learning auch viel mit Bildung zu tun. Zumindest potenziell.