„Social Video Learning“ im wissenschaftlichen Fokus

„Lass uns doch mal einen Workshop bei der Campus Innovation einreichen“, so Andreas Hebbel Seeger vor ein paar Monaten zu mir in gewohnt heißer Hamburger Umgebung. Ja, und da war er nun, dieser kleine Workshop: Gut 100 Interessierte versammelten sich im Ballsaal des Curio-Hauses, um an unserem eLearning Track „Social Video Learning“ teilzunehmen. Neben uns beiden konnten wir Ruth Arimond aus Luxemburg und Jeanine Reutemann aus Zürich für ein Referat gewinnen.

  • Nach einleitenden Worten von Andreas lag es bei mir, eine Art „Einführung“ in das Thema zu geben [Videovortrag hier]. Ich hatte diesen Auftrag so ausgelegt, dass ich mich etwas systematischer als sonst der Frage zugewendet habe, was Social Video Learning jenseits des technischen Prinzips ausmacht, warum es also in so unterschiedlichen Kontexten wie der Ausbildung von Trainern und Lehrerinnen, Musikerinnen, Führungskräften und Mathematikerinnen funktioniert. Da kann man sich doch fragen: Warum? Die Antworten hatte ich in fünf theoretischen Ankern versucht, wobei ich mich vor allem aus dem kommunikationstheoretischen Inventar (Videomanipulation, Zeichenmix, Elaboration, reflexive Beobachterebenen und Common Ground) habe anregen lassen. Es ist ein theoretischer Anfang und Jeanine signalisierte mir viel „Diskussionsbedarf“, über den ich mich freue.
  • Ruth vom IFEN (Institut de Formation de l’Éducation Nationale) skizzierte in ihrem Beitrag Ausschnitte aus ihrer Doktorarbeit, die eine qualitative Studie zur Förderung von Wahrnehmungs-, Reflexions- und Handlungskompetenz umfasst [Videovortrag hier]. Ausgangspunkt ist ihr spezieller Kontext der luxemburgischen Lehrer- und Lehrerinnenausbildung, bei der im Rahmen eines Blended Learning-Settings neben Social Video Learning auch e-Portfolios eingesetzt werden. Das Ergebnis ihrer Fallanalysen ist vielversprechend: Wenn mit fokussierten (d.h. kriteriumsorientierten) Aufgaben u.a. unter Einsatz von Social Video Learning gearbeitet wird, dann ist eine Steigerung der o.g. Kompetenzen festzustellen! Das macht Laune: zum einem wegen des positiven Ergebnisses im Rahmen einer methodisch kontrollierten Interventionsstudie und zum anderen wegen Ruths Doktorarbeit, die nun in die Endphase geht. Wir drücken die Daumen!
  • Jeanine, Unternehmerin (www.redmorpheus.com) und Wissenschaftlerin (ETH Zürich), ging in ihrem Beitrag eher grundsätzlich auf das Thema der Bildevidenz von Video (VR 360) im Rahmen der wissenschaftlichen Dokumentation und Publikation ein [Videovortrag hier]. Was sie sagt, ist für viele Ohren neu, ungewohnt, teils unbequem, weil sie neben dem wissenschaftlichen Textparadigma selbstbewusst und mit guten Gründen mehr Aufmerksamkeit für das Bild- und Videoparadigma gerade bei der Wissensgenerierung einfordert. Sie sagt: „Text kann viel, aber Video kann auch sehr viel“. Und damit meint sie nicht Video zur „Aufhübschung“ von wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern Video als Mittel der Erkenntnisgewinnung, also als methodischen Kern aller Wissenschaften, die „was zu zeigen haben“. In ihrer 2019 publizierten Doktorarbeit – in der ich gerade nach Schenkung eifrig lese – stolpere ich z.B. über Cetina Knorrs „Viskurse der Physik“, also einen Hinweis, wie das Visuelle die Erkenntnis- und Konsensbildung fördert. Großartig, gerade für eine im Aufbau befindliche Theorie des Social Video Learning.
  • Andreas war es vorbehalten, viele zuvor genannte Aspekte in seinem Vortrag aufzugreifen und anhand unseres BMBF-Projekts SCoRE mit Fokus auf dem forschenden Lernen (siehe hierzu den Vortrag von Gabi und Georg, beides Projektpartner) zu vertiefen [Videovortrag hier]. Gerade dieses Projekt hat es ja aus vielerlei Gründen in sich, weil wir dort (a) das forschende Lernen unter (b) den Bedingungen der Vielen, der Crowd, mit (c) innovativen Videotechnologien im Kontext (d) von Nachhaltigkeit (VAN) untersuchen. Informativ fand ich u.a. die Unterscheidungen von normaler Videoarbeit mit dem Handy (fixed frame) und 360-Grad Video, weil hier die besonderen Lernchancen des 360-Grad-Raums deutlich werden. Man muss sich vorstellen: Wenn man Studierende für das forschende Lernen zur Nachhaltigkeit motivieren will (was eine Herausforderung ist), dann kann es zielführend sein, sie mit einem 360-Grad Video und Headset z.B. „an den Meeresgrund tauchen zu lassen, um dort den Plastikmüll zu sehen“. Explorierendes Sehen und körperlich-emotionales Eintauchen in eine fragwürdige Situation sind hier also der Auftakt für eine Primärreflexion, auf die dann die Ausarbeitung einer Forschungsfrage, das Finden eines Untersuchungsansatzes (ggf. durch Dritte = Crowdmitglieder) folgen sollen.

Wir waren uns einig: Die vier Vorträge haben gut zusammengepasst und wurden durch die Klammer Social Video Learning gut verbunden, denn: Video kann personale Sichten auf Welt „einfangen“ (fixed frame oder 360 Grad); durch Kommentare bzw. Annotationen (= Sichten auf Weltsichten) kann man ein vertieftes, reflexives Verständnis aufbauen, individuell und in der Gruppe; und durch Videokollagen kann man wissenschaftliche Kernaussagen kommunikativ besser sichtbar machen. Vor uns liegen noch viele Fragen: Wie wird diese videobasierte Perspektivenarbeit (mit welchem Erkenntnisparadigma) zur Erkenntnis? Welche Art von Kollaboration können und wollen wir mit Video, Videokommentaren, Videokommentar-Kollagen unterstützen? Wie bekommen wir hin, das Studierende eine Vorstellung vom forschenden Lernen gewinnen, obwohl sie in der Crowd nur einen kleinen Teil eines Forschungszyklus selbständig durchlaufen haben?

All diese Fragen (und unsere vorläufigen Antworten, einer wachsenden Gruppe aus Forschern, Unternehmerinnen, Designern und Anwenderinnen) laufen auf eine spezifische Zukunftskompetenz (future skill) hinaus, wenn man diesen Trendbegriff aufgreifen will, nämlich auf ein „forschendes Sehen“, eine spezifische Form der videogestützten Weltwahrnehmung, und eine designbasierte Verarbeitung und Re-Visualisierung, bei der Kommunikation und Kollaboration der Vielen eine zentrale Rolle spielen. Klingt alles noch sperrig, ich weiß, aber das Neue ist eine Geburt.

Woher nimmt der Berater seinen Rat?

Einmal in der Woche, meistens sonntags, telefoniere ich mit meiner Mutter, 83 Jahre. Sie ließt fast jeden Artikel in der ZEIT, schaut alle Nachrichten im Fernsehern, interessiert sich für fast alles (Kopf, Herz und Seele) und klagt fast nie. Ich freue mich also ehrlich auf diese knappe Stunde, in der wir uns „Neuigkeiten“ (große und kleine) erzählen.

Immer wieder kommt es vor, und das schon seit Jahren, dass sie fragt: „Was machst du eigentlich genau? Die Betonung liegt auf diesem kleinen Wort „genau“, denn sie weiß natürlich bei ihrem wachen Verstand, was wir im Allgemeinen machen. In der Regel, und so war es bis heute, erläutere ich ihr dann so gut es geht, was ich mache: „Ich helfe Sportorganisationen dabei, wie sie ihre Trainerausbildung mit digitalen Medien qualitativ verbessern können.“ Aber das kommt nicht an, sie versteht es nicht richtig, weder „Trainerausbildung“, noch „digitale Medien“ noch „qualitativ verbessern“. Sie weiß zwar, was die einzelnen Wörter bedeuten, aber sie kann sich eben nicht vorstellen, was sich hinter der Tätigkeit des Beraters verbirgt.

Sie fragt weiter: „Woher weißt du (!) etwas, was diese Menschen, die in den Organisationen leben (!), nicht wissen?“

Es ist also gar nicht die Oberfläche, die sie nicht versteht, sondern die Verständnisschwierigkeiten liegen tiefer, eben in der Frage, woher ich als Unbeteiligter prinzipiell das Wissen hernehme. Ja, da stehe ich nun mit dieser Frage und ich denke nach. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten:

  • Ich weiß mehr (qualitativ und quantitativ), weil ich in der Sache einen Erfahrungsvorsprung habe. So wie ein Tennislehrer dem Novizen einen Aufschlag erklärt, erkläre ich dem Kunden, wie man Blended Learning umsetzt. Ich weiß es halt, weil ich es schon 100mal umgesetzt habe.
  • Ich bringe den Kunden mit (methodische) Fragen dazu, eigenes, vorhandenes, Wissen auf den Tisch zu bringen, was ohne mich nicht passiert wäre – eine Art Hebammentechnik. Das kann man auch ganz systematisch zu einer wissenschaftliche Methode machen: Was für Ziele haben wir? Was für Konzepte gibt es? Wie wollen wir diese für uns modifizieren? Wie wollen wir das umsetzen? Wie wollen wir den Erfolg messen? Wie können wir den Prozess besser machen?
  • Ich weiß es nicht! Dann bringe ich mich zusammen mit dem Kunden in eine Position, in der wir das Neue gemeinsam erfinden. Im engen Dialog und in einer entspannten, vertrauensvollen Atmosphäre führt dann eine Idee zur anderen. Entweder entwickelt sich das schrittweise oder erdrutschartig (reframe). Am Ende sieht man mit anderen Augen.

Während ich also im ersten Fall (Alt)Wissen vermittle, im zweiten Fall neues Wissen methodisch entdecke, zeichnet sich der dritte Fall durch eine sehr ungewisse (Neu)Erfindung aus und ich habe den Eindruck, dass dabei unbedingt der Körper beteiligt sein muss, es geht also nicht rein online. Erkenntnismäßig interessant ist genau dieser dritte Fall, weil man fragen kann, wo das Wissen denn herkommt (ohne Wissensquelle und ohne Methode)?

Beim nächsten Telefonat mit meiner Mutter und der erneuten Frage nach dem „genau“ werde ich ganz anders antworten, ich werde sagen: „Mutter, du hast 40 Jahre im eigenen Restaurant gearbeitet und du hast mit nicht wenig Aufwand die Gäste glücklich gemacht. Wenn ich vor 30 Jahren dein Berater gewesen wäre, dann hätte ich dir geraten, die Speisekarte zu verkleinern (Produktpalette konzentrieren), eine Kegelbahn zu bauen (um Kunden auch im Winter zu binden) oder etwas ganz anderes zu machen, z.B. anstatt eines Restaurants ein Pflegeheim zu betreiben (um langfristig zu überleben).“

Sie würde dann sagen: „Das wusste ich damals bereits alles, du würdest von mir keine „Mark“ bekommen!“

Und dann würde sie mich anlächeln und sagen: „Ich habe dich schon verstanden.“ ?

Man(n) hat‘s nicht leicht.

Hamburger Kämpfer

Mindestens einmal in der Woche treffe ich auf meinen Freund A.. Wir spielen Squash. Wie jeder weiß, lädt diese Sportart alle Kämpfer zum Kampf ein, die nicht mit ausgefeilter Technik und Taktik punkten können. Solche Kämpfer sind wir. Es wird um jeden – wirklich jeden – Ball solange gekämpft, bis der Körper die Befehle des Kopfes verweigert. Jenseits der 50 spricht der Körper mit einem, anders, über anderes.

Das Ende vom Lied sieht dann immer gleich aus: Ist der letzte Punkt nach 45 oder 90 Minuten (je nach Folgebuchung) gespielt, lassen wir uns auf den Boden fallen und strecken alle Viere von uns. Schweigen. Dann folgen Beschwörungsformeln „noch nie so fertig gewesen zu sein“. Männer brauchen das, offenbar.

Unsere Treffen wären aber unvollständig beschrieben, wenn ich nicht doch noch einen Satz zur Sauna – heiße Phase, Teil zwei – sagen würde. Eine abschließende Geschichte zeigt die Qualität: Nach einem Saunagang sitzen wir mit knappen Leibchen bekleidet auf zwei Stühlen unter freiem Himmel uns direkt gegenüber, so dass wir uns anschauen. Wir mussten spontan an eine Uniprüfung denken und so inszenierten wir ad hoc eine Art Streitgespräch zu einem wissenschaftlichen Thema. „Herr Professor, hier kann ich Ihnen nicht zustimmen, denn die Theorie sagt doch nichts darüber aus …“ Um uns herum versammeln sich Zuhörer, alle nackig mit Leibchen und beäugen uns, neugierig und schweigend. Das Ganze hat nicht länger als 20 Sekunden gedauert, also nix.

Aber in diesem Nix liegt alles.

„crowd didactic“ … Didaktik der Vielen

Es gibt Menschen, die sagen, man brauche keine Didaktik mehr (hier). Wahrscheinlich haben sie schlechte Erfahrung mit Didaktikern gemacht, oder sie rücken die Didaktik in einen Bereich, von dem sie sich distanzieren und emanzipieren wollen. Aber solange ‚Didaktik‘ die Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens (und damit des Unterrichts) ist und wir diese Theorie und Praxis als Design begreifen (vgl. Goodyear), solange taugt und trägt der Begriff auch oder gerade im digitalen Zeitalter!

Nun wurde zur Didaktik schon viel geschrieben: Normatives seit Comenius, Unterrichtstheoretisches seit Herbart, Psychologisches seit Aebli, bis zu (immer noch) modernen Überlegungen zur didaktischen Analyse seit Klafki. Mediendidaktiker weisen seit der Jahrtausendwende auf Multimedia und Hypermedia hin und mit dem ‚flüssigen‘ Internet auch auf Potentiale von Kooperation, Kollaboration und Netzwerkarbeit. Der Einzug der digitalen Medien und des Internets hat ohne Zweifel die didaktische Fantasie beflügelt, man schaue sich hierfür nur die Tagungs-Dokumentationen der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft seit den 2000er Jahren an.

Die moderne Didaktik hat sich vor diesem Hintergrund immer weiter ausdifferenziert und ist damit leistungsfähiger geworden. Kritisch muss man aber feststellen, dass sich die theoretischen Überlegungen sowie didaktischen Szenarien letztlich am Kernkonstrukt vom Unterricht im engeren Sinne orientieren und damit nicht über eine „Didaktik für Wenige“ hinauskommen; und da ist es egal, ob wir eine Klasse mit 25 Schülern oder eine (flipped) Vorlesung mit 250 Studenten in den Blick nehmen.

U.a. setzt das BMBF-Projekt SCoRe genau hier an: Mit SCoRe betreten wir, d.h. mehrere Unis/Hochschulen sowie Ghostthinker als EdTec-Unternehmen, Neuland, denn es geht darum, das „Forschende Lernen“ ganz bewusst unter den „Bedingungen der Vielen“ neu zu denken und das ist gerade für den Hochschulraum einzigartig (vgl. crowd research, Standford). Das wir das noch mit aktuellen Videotechnologien (u.a. 360-Grad-Video; Social Video Learning) tun wollen, die ein „forschendes Sehen“ unterstützen und an einem Gegenstand, bei dem es um Nachhaltigkeit geht (vgl. Virtuelle Akademie der Nachhaltigkeit), macht das Ganze speziell.

Wie das didaktisch und medientechnisch genau gehen soll, wissen wir ehrlich gesagt noch nicht ganz genau, … wir formen gerade mit einem DBR-Ansatz eine erste Gestalt! Aber genau deshalb ist SCoRe ja auch ein echtes entwicklungsorientiertes Forschungsprojekt, über das ich mich ungemein freue, zumal im Team wirklich sehr gute Wissenschaftler aus den Bereichen Designforschung, forschendes Lernen, Nachhaltigkeitsforschung und Videotechnologie am Start sind, die zusammen mit den „guten Geistern“ von Ghostthinker die Lücke des Nichtwissens kreativ füllen werden. Ich werde berichten …

Die Zukunft

In ein paar Wochen werde ich einen Artikel in der Buchreihe „Die Zukunft des Sports“ abgeben müssen, in dem ich unser Konzept Lernen ‚5.0‘ weiter ausbuchstabieren darf. Für alle, die es noch nicht wissen: Lernen ‚5.0‘ beinhaltet fünf Dimensionen zur Neugestaltung der Trainerausbildung. Da steckt meines Erachtens genug digitale und didaktische Zukunft drin, genug sportpolitische Utopie. Also … alles gut?

Nein, denn ich frage mich grundsätzlich: Wie, also methodisch, kann man über die Zukunft des Sports reden? Geht es um das Wahrscheinliche oder Wünschenswerte? Welchen Rat geben uns eigentlich die Wissenschaften jenseits des Systemwissens (Evidenzen), wenn es um (normatives) Zielwissen und das noch viel knappere Transformationswissen geht?

Und weiter: Über welchen Sport reden wir, wenn wir die Zukunft DES Sports ins Auge fassen? Über den traditionellen Leistungs- und Wettkampfsport? Über sportnahe, aber doch eher spielerische, nicht-kompetitive Bewegungsformen wie z.B. Joga? Oder neue Sporterscheinungen wie den e-Sport, der Millionen von Menschen über virtuelle Spielkonsolen mit virtuosen Fingerspielen in den visuellen Bann zieht? Kurz: Gibt es ihn überhaupt noch, DEN EINEN Sport, und falls ja, welche Zukunft wolle wir warum für ihn?

Themenwechsel!?

In der aktuellen Ausgabe der ZEIT wurden Politiker danach gefragt, wie sie sich die Welt in 50 Jahren vorstellen. Die Politiker hatten die Aufgabe, eine Dystopie (Alles wird schlecht) und eine Utopie (Alles wird gut) zu skizzieren. Herausgekommen sind etwa 10 Zukunftsskizzen, in denen es bei der Dystopie um die Auflösung der EU, den Anstieg des Meeresspiegels, um Migrationsströme und atomaren Krieg, geht, bei der Utopie um die Ausweitung der EU, dem Nichtanstieg des Meeresspiegels, um geregelte Migrationsbewegung und … Frieden.

Insgesamt fällt es uns offenbar schwer, die Zukunft (neu) zu denken. Weder ist klar, was genau der Gegenstand ist (Welt, Gesellschaft, Bereich X, Prozess Y) noch haben wir gute Kenntnisse und Übung in den methodischen Zugängen. Fragt man die o.g. Politiker danach, was ihnen bei der Skizze leichter gefallen ist, die Utopie oder Dystopie, so kommen sie schnell zu einem Urteil: Dank Hollywood geht Ihnen die negative Sicht leichter von der Hand. Bei der Analyse der Zukunftsskizzen fällt zudem auf, dass es insgesamt nur sehr wenige Kategorien sind, mit denen sie Zukunft neu denken und wenn, dann konstruieren sie die Welt recht unkreativ mit verschiedenen Vorzeichen (Erhalt oder Ausstieg aus EU).

Themenwechsel!?

Im dritten Buch des israelischen Schriftstellers und Technikhistorikers Yuval Noah Harari, „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ werden uns Hinweise oder besser Mahnungen für die Gestaltung der Zukunft mitgegeben. Hararis beeindruckender Gedankenbogen von der „Geschichte der Menschheit“ bis „Homo Deus“ (seine beiden anderen Bücher in dieser „Serie“) zeigt uns, wie verführbar Homo Sapiens durch Erzählungen oder Fiktionen aller Art ist und wie grundsätzlich neu wir Homo Sapiens unter den Bedingungen der Künstlichen Intelligenz sowie Biotechnologie denken müssen. Grundsätzlich meint: Es geht nicht mehr nur um die Frage, mehr oder weniger EU oder Migration oder Meeresstand, sondern um das, was wir bisher „Menschsein“ nennen. Wenn wir durch genetische und technologische Veränderungen Menschen mit „erweiterten Möglichkeiten“ schaffen können (Übermenschen), dann kommen bei unseren Zukunftsbildern auf einmal ganz andere Farben ins Spiel, das schönste Rot und das dunkelste Schwarz.

Was also tun? Ich weiß es natürlich angesichts der komplexen Fragestellung auch nicht, aber eines ist gewiss: Wenn wir mit Bezug auf die  radikalen Veränderungen nicht ebenso radikal (intensiv, disruptiv, positiv) Zukunft denken, dann wird das mit unserer (!) Zukunft nix. Dann bekommen wir einfach eine.

Sport trifft Wirtschaft: Wir suchen eine Börse für soziale Leistung

Am Freitag war ich auf dem DOSB-Kongress 2018, der sich dem Thema Personalentwicklung widmete. Als Keynote waren eingeladen: der Direktor der Führungsakademie (Herr Scheibe) sowie die Geschäftsführerin Personal von Procter & Gamble (Frau Buschhoff), die beide äußerst unterschiedlich gesprochen und präsentiert haben.

Ich habe mir die beiden Impulsreferate mit Gewinn angehört, gerade weil sie so verschieden in ihrer Form und ihrem Inhalt waren: Scheibe hat uns in ein klassisches Personalentwicklungsinstrument eingeführt und verdeutlichte seine Botschaften mit instruktivem Text im Rahmen einer klassischen PowerPoint-Präsentation. Frau Buschhoff wählte einen Ansatz, der auf Sinn, Engagement, Freiraum etc. abstellte, ihre sog. Magneten (vgl. Bild); sie unterstütze ihre Botschaften mit vielen Bildern und emotionalen Videos aus Agenturhand.

Im Anschluss entspann sich eine Diskussion, die vor allem (aber nicht nur) die „romantische Sicht“ – so die Deutung – von Frau Buschhoff auf- und angriff: Im Sport mit seiner permanenten Ressourcenknappheit vor allem im Ehrenamt sei eine solche Denke schlecht umzusetzen. Der Vorwurf der mangelhaften Umsetzbarkeit ging auch an Scheibe: Zu wenig würden die Bedingungen des Ehrenamtes gesehen und entsprechend wenig neue Ideen gäbe es „speziell für einen Großteil des Sports“.

Ich teile die Kritik, ohne die Impulse der beiden Keynote-Sprecher zu relativieren; sie bieten gute Ankerpunkte für eine spezifische Personalentwicklung im Sport. Kernpunkt der Herausforderung ist die These, dass ohne „Geld“ z.B. keine ehrenamtlichen Vereinsmanager zu gewinnen sind. Das sehe ich anders!

Geld ist ein Mittel der Anerkennung, aber ich denke ein für das Ehrenamt nicht zentrales. Zentral ist vielmehr – so meine These –, dass die Menschen ganz ökonomisch abwägen, ob ein ehrenamtliches Engagement für ihren Lebenslauf „nützlich“ ist. Der Nutzen wird also nicht mehr primär in einem Selbstzweck (Freude an der Sache, Kompetenzerleben, Eingebundenheit) gesehen, sondern in der Frage, ob das Ehrenamt z.B. bei der Bewerbung in der Wirtschaft hilfreich ist.

Wie wäre es also, wenn ein Ehrenämtler aus dem Sport die Dokumentation und Reflexion zu seiner Managementtätigkeit in Form eines e-Portfolios der o.g. Frau Buschhoff anschaulich zeigen könnte? Was wäre, wenn Frau Buschhoff in einem Vorstellungsgespräch sagen würde: „Sehr interessant, wie Sie mit der multisprachlichen Herausforderung bei der Integration von Flüchtlingen in Ihrem Verein auf der Managementebene umgegangen sind!“ Was wäre, wenn Frau Buschhoff den jungen Ehrenämtler u.a. wegen seines e-Portfolios im Bereich „Diversity“ einstellen würde?

Und weiter: Was wäre, wenn der DOSB alle „Buschhoffs“ aus Deutschland für ein Projekt gewinnen könnte, in dem Wirtschaft und Ehrenämtler via e-Portfolios zusammengeführt würden, wo man die Zeitinvestition im Ehrenamt für eine bessere Bewerbungssituation, quasi als eine „neue soziale Währung“, nutzen könnte (vgl. Social Return on Investment)!

Ich bin mir sicher: Es gäbe einen Run auf das Ehrenamt, wo es ja Sinn, Engagement, Freiraum, Diversität und authentische Kultur zu Hauf gibt, also all das, was Buschhoff als Kern der neuen Personalführung (vgl. auch neue Arbeit) definiert hatte. Wären in diesem skizzierten Sinne gebildete Ehrenämtler nicht die besten Botschafter für ein Personalführungsprogramm, das auf die fünf „Magneten“ setzt?

Also: Raus aus der Kein-Geld-Jammerei und in die Vollen gehen: Kein Geld, dafür gibt’s Sinnarbeit! Für diese Währung muss es jetzt nur eine Börse geben.

Kraft und Kraftlosigkeit des Fußballspiels

Samstag lese ich manchmal die ZEIT – Wochenzeitungen entschleunigen. Hängen geblieben bin ich dieses Mal an einem Artikel mit der Überschrift „Sie sind der German Dream“ von Wolfgang Thielmann. Darin wird von Scoring Girls berichtet, ein Projekt der ehemaligen Bundesliga-Fußballspielerin Tuna Tekkal, die sich heute als ehrenamtliche Trainerin für junge geflüchtete Mädchen stark macht, die jenseits aller kulturell-religiöser Unterschiede einfach Fußball spielen wollen. „Fußball bringt sie zusammen und macht sie selbstbewusst“, so Tekkal im Artikel. Während ganz Deutschland also über Integrationsprobleme spricht (Özil, Clans etc.) zeigt sie, dass Integration gelingen kann, nämlich spielend!

Liest man die Geschichten der geflüchteten Mädchen, die Gräueltaten des IS, besonders an der Gruppe der Jesiden, dann erscheint das, was Frau Tekkal mit ihrem gemeinnützigen Verein Hawar Help macht, als Utopie, als ein (wirklicher) Nicht-Ort. Doch was hier auf dem Bolzplatz passiert, ist mehr als nur Vollspann: Es geht um Selbstbestimmung (der Frauen) und um ein „Gefühl der Freiheit“, wie Tekkal es ausdrückt. Darin wird deutlich: Das (Fußball-)Spiel erzeugt vor dem Hintergrund der spezifischen Spielidee seine eigensinnige, d.h. freie, kreative, kämpferische, leidenschaftliche, regelgeleitete und soziale Wirklichkeit, die sich vom Leben da draußen so wohltuend abgrenzt. Und genau durch diese Abgrenzung entsteht im Sport dieses „Gefühl der Freiheit“ – ein flüchtiges, aber kraftvolles Gut auf Zeit!

Vor ca. 20 Jahren hatte ein Kollege von mir (Sporthochschule) in seiner Diplomarbeit die Forschungsfrage gestellt, ob Kinder aus brasilianischen Slums ihre Fairness-Erfahrungen vom Bolzplatz in den Alltag transferieren können. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Auf dem Platz folgte man artig den Regeln, zurück auf der Straße hatte man keine Scheu, die Pistole zu verwenden. Besser konnte man Kraftlosigkeit nicht auf den Punkt bringen.

Was kann also Fußball, was kann Sport leisten? Zum einen unendlich viel, z.B. bietet er Erfahrungen zur Selbstbestimmung, die vor allem dort wirken, wo bisher vorwiegend Fremdbestimmung herrschte. Zum anderen unendlich wenig, z.B. wenn alle Hoffnungen auf eine transferierbare Fairness ins Leere laufen.

Man darf also vom Fußball nicht viel erwarten, dann kann er die Menschen auch reich beschenken.

Big Mac in Hamburg

Ich habe einen Großteil meiner Jugend auf dem Tennisplatz verbracht. Es war die Zeit von Boris Becker, Steffi Graf und Bic Mac (John McEnroe). Während Becker uns (nicht nur) mit seinem Willen inspirierte, fanden wir bei McEnroe die minimalistische Ausholbewegung „extrem cool“ (ökonomisch, schlicht, zielführend). Wikipedia beschreibt es treffend: „Seine Schlagtechnik bei den Grundlinienschlägen zielte darauf, das Tempo des vom Gegner geschlagenen Balles „mitzunehmen“. Er erreichte dies, indem er mit nur kurzer Ausholbewegung des Schlägers die Bälle in der Vorwärtsbewegung zum Netz noch in deren Aufstiegsphase spielte. Aus diesem Grund wurden viele Bälle unorthodox, mit fast offener Schlaghaltung gespielt.“

Das ist nun über 20 Jahre her, eine Ewigkeit, Jugend halt. Umso mehr habe ich mich zusammen mit meinem Bruder Peter (ein sehr großer Mac-Fan) gefreut, als letzten Sonntag McEnroe zusammen mit Michael Stich am Hamburger Rothembaum auf dem Center Court standen und wir das Spiel live verfolgen konnten.

Es hat sich nix geändert! Er ist mit 59 Jahren immer noch schnell unterwegs, spielt immer noch seinen unorthodoxen-ökonomischen, leicht provokativen Stiefel. Doch davon hat sich Michael Stich nicht irritieren lassen: „Mr Perfect“ (Stich: er hat einfach keine Schwächen), hat das Spiel schließlich gewonnen. Es war sein Abschiedsspiel, nicht nur deshalb sei ihm das gegönnt!

Mein portVOHLEo

Ich hatte es immer schon auf den Lippen, eben meinen Blog portVOHLEo zu nennen und natürlich ist das mit einem Augenzwinkern gemeint. Aber neben der lautmalerischen Parallelität geht es mir hier darum, eine „Begegnung mit dem (eigenen) Tun“ zu ermöglichen, so wie es Polanyi treffend gesagt hat.

„Begegnung mit dem Tun“ klingt für mich besser, einladender als Reflexion, dieser für die Portfolioarbeit so viel- und vielleicht auch abgenutzte Begriff. Wenn man die Erlebnisse und Gedanken – manchmal sind es eben auch nur völlig unreife Gedanken – im eigenen Blog aufgreift, sie „dingfest“ und explizit macht, dann begegnet man sich neu. Wer hat das so erlebt: ich? Wie habe ich damals gedacht? Oh je oder Aha! Diese Verdopplung ist Teil des fruchtbaren Gedankenspiels (primäre Leistung), das man beim Bloggen erleben kann, über Jahre oder eben auch Jahrzehnte.

Mit meinem neuen portVOHLEo will ich die mehr als 13-jährige Bloggeschichte von frank-vohle.de fortsetzen, an der inhaltlichen Ausrichtung aber nix groß ändern (Didaktik, lernende Organisation, Digitalisierung, meist im Sport). „Es muss Spaß machen“, wie Helge Schneider schon richtig vermutet, zumindest dann, wenn die Beziehung zu sich selbst länger als einen Sommer halten soll. Neu ist allein der technische Hintergrund (à WordPress) und das Design (Tanker auf der Elbe der Freien und Hansestadt Hamburg).

Also, Ahoi!

Digitale Zeitenwende

Zwischen den Jahren hat man Ruhe, eben AUCH für Bücher, die man sonst wegen der rasenden Zeit nicht lesen kann. Zum Jahreswechsel hatte ich mir drei Bücher auf den Tisch gelegt:

  • Meffert & Meffert: Eins oder Null. Wie sie Unternehmen mit digital@scale in die digitale Zukunft führen.
  • Hill: Die Start-Up-Illusion. Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert (das Buch war ein Geschenk vom Kollegen Karsten Görsdorf @ danke dir!)
  • Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. 

Es sind drei sehr unterschiedliche Bücher, die aber eines gemeinsam haben: Sie handeln von einer möglichen Zukunft, in der intelligente Algorithmen eine Rolle spielen: für uns als Einzelperson, für unsere Organisationen und unsere Gesellschaft als Ganzes. Ich will hier keine Zusammenfassung liefern, nur so viel:

  • Das erste Buch wendet sich an all diejenigen, die wissen wollen, wie man vor allem aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive der digitalen Zukunft begegnen sollte. Zusammengetragen sind alle Tipps und Tricks der McKinsey-Bruderschaft. Entsprechend ist das Buch nach einer anfänglichen Warnungssalve (Die Uhr tickt!) vollgestopft mit allem, was der Mensch (offenbar) so braucht: Omni-Chanel, Dynamic Pricing, Digitales Marketing, Open Innovation, Lieferkette 4.0, Digital Lean, etc. Im jeden Fall geht es den Autoren um eines: Think Big! Nur so – so das Credo – können wir (als Unternehmen) überleben. Kritsch-klar ist auch: Ist dieses Mantra einmal vom Kunden geschluckt, sichert es der Beraterzunft die monetäre Zukunft.
  • Das zweite Buch ist geschrieben von einem renommierten Wirtschaftsjournalisten aus den USA (Silicon Valley), der in Berlin als Fellow (Stipendiat) gelebt und gearbeitet hat. Er ruft uns Deutschen oder besser ganz Europa zu: Kämpft um die Errungenschaften einer wertebasierten und sozialen Marktwirtschaft mit Sozialsicherungssystemen, Mitarbeiterbeteiligung etc. und lasst diese Kultur nicht durch die Digitalisierung kaputt machen. In seinem Buch zeigt er durch Beispiele auf, dass aus vielen US-amerikanischen Unternehmen der Digitalwirtschaft nur in einem sehr geringen Umfang neue Jobs hervorgegangen sind. Zudem verbreite sich eine Kultur der Mini-Jobs (Gigs, Micro-Gigs), die zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig Geld einbringen würden: Beides zerstöre nicht nur Einzelschicksale, sondern auch die Demokratie als Ganzes! Was tun, wenn nicht ein europäisches Amazon oder Facebook schaffen? Er plädiert für eine Verbindung der neuen Start-Up-Kultur und dem guten alten deutschen Mittelstand! Innovation und Geschwindigkeit treffen auf Werte, Präzision, Langfristigkeit. Das ist das (attraktive) Credo.
  • Das dritten Buch, Homo Deus, … der Titel ruft es uns zu: Wir wollen Götter werden! Nachdem alle Leiden abgeschafft sind: Krieg, Hunger etc. macht sich der Mensch auf, übermenschlich zu werden. Biotechnologie, Biosynthese, KI-Implantate, alles, was man aus guten Science-Fiction kennt (vgl. auch meinen Beitrag zu Karin Gloys Wahrnehmungswelten). Nur ist das keine Fiktion mehr, sondern bereits Teil unserer Wirklichkeit! Für den Autor ist eines sicher: Alle Wissenschaften werden in eine Art Megawissenschaften zusammenlaufen, in denen die Funktionsweisen von Natur und Kultur als Verrechnung von Daten, dem Dataismus, verstanden werden. Am Ende dieser Dystopie fragt der Autor: Wollen wir das? 

„Wollen wir das?“ Diese Frage klingt noch einige Tage nach Beendigung des Hörbuches in mir fort. Während es für Meffert & Meffert ausgemacht ist, dass wir auf den EINEN digitalen Zug aufspringen müssen, hat Hill doch eine Alternative für uns, nämlich die, dass wir nicht auf die US-amerikanische Variante der Digitalisierung setzen, sondern etwas Eigenes, Europäisches, Wertebasiertes, Soziales, Demokratie-Stabilisierendes zu entwickeln haben. Zumindest ist das für mich eine erste inhaltliche (!) Antwort auf die Frage: Digitale Transformation, aber wohin? Und der Übermensch von Harari? Homo Sapiens stand und steht immer in Gefahr (vgl. hier). Nur, die digitale Revolution ist kein Kampf ums nackte Überleben (wie bei allen anderen Revolutionen), sondern ein Kampf um die humane (!) Existenz.