Der kleine Elefant

Irgendwo im südlichen Indien, so erzählt es eine Nachrichtenagentur im Internet, ist ein kleiner Elefant in ein Erdloch gefallen, und zwar rüsseltief. Die herbeieilende Elefantenherde zeigte sich in den ersten Minuten noch entspannt, in den nächsten Stunden zunehmend nervös, weil es ihnen trotz immenser Stärke und Rüsselraffinesse nicht gelingt, den Kleinen zu retten. Mit Beginn der Dämmerung sind die Elefanteneltern außer sich: Die Elefantenmutter stößt mit Blick auf den erschlaffenden Babykörper einen verzweifelten Schrei aus, der das bisherige Getöse und Posaune der Herde in Art und Lautstärke weit übersteigt.

Im zwei Kilometer entfernten Dorf hatte man das Posaunen der Herde bereits bemerkt. Aber erst mit dem Schrei der Elefantenmutter sagte einer der Dorfbewohner: Hier stimmt etwas nicht! Eine Menschengruppe mit Wildhütern eilt mit Geländewagen in Richtung der Elefanten, wohlwissend, dass diese Reise tödlich enden kann. Doch die Elefanten stehen still, lassen die Menschen nach dem Kleinen schauen. Schnell wird klar: Ohne Bagger ist hier nichts zu machen, zu schwer ist der Kleine und zu matschig ist das Erdreich. Um es kurz zu machen: Der Bagger wird schnell herbeigeschafft – im südlichen Indien eine ernste Herausforderung – und der kleine Elefant wird gerettet, noch ehe das Leben aus ihm schwindet.

Eine schöne Weihnachtsgeschichte, eine wahre noch dazu. Aber ist es nur eine Geschichte, wie sie das Internet tausendfach erzählt? Als ich die Geschichte las, samt Fotos vom kleinen Elefanten, der Mutter, den Wildhütern, dem Bagger, dachte ich mir: Kleine Elefanten, die in Löcher fallen, brauchen große Elefanten. Doch manchmal sind die Löcher so tief und schlammig, dass selbst die größten Elefanten keine Idee mehr haben, um eine Lösung zu finden. Diese Ohnmacht ist mit dem schrecklichen Schrei der Mutter auf den Punkt gebracht.

Ich habe gerade das Buch „Unsere Welt neu denken“ von Maja Göpel gelesen. Hier geht es nicht um Elefanten, aber um schwergewichtige Themen: Umweltschäden aller Art, grenzenloser Konsum und ungezügelter Kapitalismus. All das hat mich an den kleinen Elefanten erinnert, der in dieses tiefe Loch gefallen ist. Und Göpels treffende ökonomische Analysen erinnern mich an die großen Elefanten, die trotz ihrer Erfahrungen und Kraft nichts ausrichten können; gerade mit ihrem Gewicht würden sie jeden Rettungsversuch am schlammigen Loch des kleinen Elefanten zunichtemachen – ein Dilemma! Und 2020 ist das Jahr des Aufschreis: Göpel und andere Vordenker der neuen Welt auf allen Kanälen, Friday for Future, Sience for Future, alles eine Kombination aus neuer Macht (Tipping Point) und alter Ohnmacht (Dilemmata), eine Fortsetzung des Aufschreis des Club of Rome der 1970er.

Und wofür stehen hier nun die Wildhüter? Nicht für die Götter, die wir in der Not herbeiflehen, soviel ist klar. Es ist wohl nur ein analoger Hinweis auf die qualitativ andere Art des Problemlösens, die Elefanten von Menschen unterscheidet: Die Menschen haben den kleinen Elefanten mit ihrem Bagger nicht hochgehoben, sondern ausgegraben! Was sagt das über die Weltprobleme? Vielleicht so viel: Göpels Aufrufe zum kollektiven Mut, neuer Wertschöpfung und Ordnungspolitik klingen zwar logisch-zwingend, aber sie verbleiben, könnte man meinen, auf der logischen Ebene des Hochhebens, der intuitiven Lösung. Was wäre dann das Ausgraben? Welchen analogen Impuls können wir hier mitnehmen? Es hat was mit den (sozialen) Dilemmata zu tun, in die sich moderne Gesellschaften hineinmanövriert haben. Wie „löst“ man die? Indem man die Bedingungen aushebelt, unter denen sie sich organisieren, oder im Bild des Elefanten: Aus dem tiefen Loch wurde eine freie ebene Fläche. Und jetzt dürfen wir alle mal den heiligen Weihnachtsgeist über uns kommen lassen, um aus dieser Metapher eine Lösung zu entwickeln. 2021 klappt das, das wäre mal eine Frohe Botschaft.

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