Talententwicklung … oder „zu sich kommen“

Es war wohl Anfang der 1990er, als ich zu meiner ersten Diplomprüfung geladen wurde. Prüfungsgegenstand war das Thema „Ordnung im Sport“, zu lesen hatte ich das Buch von D. Landau und H. Digel, also etwas aus dem Umfeld von Sportpädagogik und Sportsoziologie. Meine Prüfer waren die Professoren Quanz und Erdmann, der eine Didaktiker, der andere Psychologe. Es war ein heißer Sommertag und ich trat wie immer sehr, sehr aufgeregt in das Prüfungsbüro. Dort schauten mich neugierige und vertrauensvolle Prüferaugen an: „Herr Vohle, dann erzählen Sie mal, was haben Sie denn gelesen?“ Und ja, ich hatte Digel und Landau gelesen, darüber im Semester zuvor ein freies Referat gehalten und war (ernsthaft) der Meinung, alles gesagt zu haben. Daher hatte ich mich für die Prüfung lieber weiter in das Thema vertieft … oder besser verrannt! Ich verbrachte viele Tage zur Vorbereitung mit David Bohms „Impliziter Ordnung“, ein Buch aus dem Kontext der Quantenphysik, dessen Kernidee von impliziter Ganzheit mich noch weiter begleiten sollte. Nun aber in der Prüfung, da brach es aus mir heraus: Ich riss Digel und Landau nur kurz an, um dann MEINE Gedanken zum Thema Ordnung in Natur und Kultur (mit dem Spiel als Klammer) vorzustellen, ein Gestammel, nicht mehr. Das Überraschende war: Sie ließen mich reden! Nach 45 Minuten sagte Herr Quanz: „Herr Vohle, wir müssen hier vorerst Schluss machen … und jetzt fahren Sie erstmal nach Hause und trinken im Restaurant Ihrer Eltern ein Glas Bier“. Mit roten Wangen und ziemlich erschöpft verließ ich den Raum, über Noten sprachen wir nicht, nur eines war wichtig: Ich hatte meine sehr gewagten Gedanken geteilt, war in Neuland gestolpert, ohne zu fallen. Ich fühlte mich erstmals (!) als Anführer einer Expedition zu mir selbst.

Themenwechsel?!

Unter dem Titel „Er schrieb seine Partitur selbst“ wird in der aktuellen ZEIT ein Interview mit dem Stardirigenten Barenboim über das Jahrhunderttalent Maradona geführt. Wir erinnern uns: „Die Hand Gottes“. Gesucht werden Parallelen zwischen Musik und Fußball. Am Ende des Interviews geht es auch um Talente. Barenboims Kritik am Fußball: „Die Welt ist verwechselbar geworden“ […] Heute spielen alle ein bisschen argentinisch und ein bisschen Nähmaschine. Keine eigenen Leute, kein eigener Stil!“ Am Ende finden wir – so meine ich – nur noch strategisch agierende Allrounder, auf hohem Niveau, versteht sich. Aber Fußball lebt doch gerade vom Bruch, es anders zu machen, gegen den Strich, spontan, aus sich heraus, nicht umsonst spricht der Sport- und Kulturwissenschaftler Sven Güldenpfennig von einem Künstler, einer Künstlerin, dort auf dem Platz.

Themenwechsel?!

Seit Jahren beobachte ich im Bereich der LehrerInnenbildung die gut begründete Strategie, Lehrnovizen mit „kriteriumsorientierten“ Beobachungsschulungen besser zu machen. Man schaut also nicht zu allererst nach den Eigenarten, Ticks und Besonderheiten, nach dem naiven Vorverständnis der KursteilnehmerInnen, sondern hat gleich Kriterien zur Hand, wie es richtig geht; man weiß, was Lehrqualität ausmacht und man verschwendet keine Zeit, die AnfängerInnen schnellstmöglich mit den „wissenschaftlichen Kriterien“ zu konfrontieren.

Was ist also nun der Zusammenhang zwischen Vohles Prüfungsstunde, Maradonas Hand, Barenboims Kritik am Fußball und der Lehrerbildung heutiger Tage (mal abgesehen davon, dass hier Namen in eine Reihe gebracht werden, die auseinandergehören ?)? Es ist gleich, welche Talententwicklung wir in den Blick nehmen: Wissenschaft, Musik, Fußball, Lehre oder gar Singen. Der Punkt ist: Fragen wir zuerst nach den Abweichungen (so schräg sie uns auch erscheinen mögen) oder nach den gut begründeten Standards? Barenboim sagte im Interview einen wunderschönen Satz: Sein Vater (ebenfalls ein begnadeter Musiker) habe ihn früh gemahnt: Vergiss das Wunder beim Wunderkind und sei ab jetzt nur noch ein Kind.

„Nur noch ein Kind sein“. Das widerspricht unseren Vorstellungen von Planung, Verwertung und prognostischer Sicherheit bei der Talententwicklung in Wissenschaft, Sport und Wirtschaft. Aber eines ist sicher: Mit Standards bekommen wir Talente, die zwar alles können, was man so braucht, aber nicht Talente, die ein „Spiel drehen“ oder einen „Anfang machen“ können, was in Wissenschaft, Sport und Wirtschaft zwar verschieden aussieht (Paradigma, Pass, Produkt), aber auch einen gemeinsamen Kern hat, nämlich das Spielen. Spielen zu können, ist eine voraussetzungsreiche Sache, aber, so die abschließende These, wir brauchen mehr Spiel (auch mit sich selbst!), mehr Lust auf Abweichung, mehr Neulandvertrauen, gerade in einer komplexen Wissensgesellschaft, in der wir komplexe Probleme lösen müssen und z.B. wie im Fußball, auf eine unvergleichliche Art unterhalten und überrascht werden wollen.