Und noch einmal: Was ist Präsenz?

Kennt ihr die Geschichte? Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: “Was zum Teufel ist Wasser?“

Ich hatte mir Ende des letzten Jahres zum ersten Mal die Frage gestellt, was das eigentlich ist: Präsenz. Ein wenig war der Blick auf Präsenz wie der Blick der Fische auf das Wasser: „Präsenz, was zum Teufel ist das?“ Eine erste Antwort habe ich Ende November 2020 bei Herbert Grönemeyer gefunden: „Kultur stützt die Menschen in ihrer Verzweiflung, Trauer, in der Lust, Freude, ihrem Lachen, ihrem Mut und ihrer Zuversicht“. Ersetzt man Kultur durch Präsenz, dann hat man eine erste Idee davon, was Präsenz vielleicht ausmacht.

2021 hat mich diese Idee nicht losgelassen, natürlich, weil auch 2021 von einer „Störung der Präsenz“ durch Corona durchzogen war. Anfang des Jahres habe ich mich zum ersten Mal bei einer Keynote beim LSB NRW getraut, meine eigenen Gedanken zum Thema zu formulieren. Die Kernthese war, dass die großen Sprünge beim Online-Lernen (Technologie, Didaktik, Organisation) durch Corona in den nächsten Jahren einen gewaltigen Innovationsdruck auf das erzeugen, was wir bisher Präsenz nennen. Einfach formuliert: Wenn ich schon 500 km zu einem Präsenztermin anreise, dann muss es auch „krachen“. Ein Vortrag mit Gruppenarbeit tut es dann nicht mehr, denn das geht online einfacher oder sogar besser. Um die Qualität der neuen Präsenz besser zu fassen, hatte ich den Begriff „Serendipity“ herangezogen, um (ganz im Sinne Grönemeyers) das Körperliche, Emotionale, Informelle und Zufällige in der zukünftigen Präsenz näher zu kennzeichnen, also etwas, was man nicht digitalisieren kann oder besser: nicht digitalisieren sollte!

Ich gebe zu: Serendipity war ein verbaler Handgriff, um überhaupt das „Wasser als Wasser zu erkennen“, d.h. über die Tiefenmerkmale von Präsenz als normativen (!) Begriff mehr zu erfahren. Offen und unbefriedigend blieb vor allem für die Verantwortlichen in Bildungsinstitutionen, was das nun genau heißt: körperlich, emotional, informell und zufällig.

In einem der letzten Redebeiträge dieses Jahr, auf der DFB-Jahrestagung Bildung, bei der über 100 Referenten:innen (edubreaker:innen) zusammengekommen sind, habe ich dann nochmal konkretere Bilder für das Neue gefunden: Ich spreche davon, (a) von Scheitern-Können, (b) Überrascht-Werden und (c) Gemeinsam-Schaffen.  

Scheitern zu können, halte ich für die zukünftige Präsenz für wesentlich. Warum? Weil vor Ort, in der Sportschule (oder anderen analogen Orten der Weiterbildung) Experten:innen und Peers vor Ort sind, um mich aufzufangen, „wenn ich hingefallen bin“. Präsenz legitimiert sich dadurch, dass man didaktisch provozierte Entgleisungen wieder in die Spur bekommt, denn genau das kann im Online-Modus schnell ins Auge gehen. Und ja, auch überrascht zu werden, schätze ich für die Zukunft der Präsenz als essenziell ein: Wenn Präsenz dem Scheitern-Können dient, dann sind Unsicherheiten, Ungeplantes, Überraschungen fast schon notwendige Folgen. Damit zukünftige Praxis nicht im Chaos endet, wird es wichtig werden, die Geschichten des Scheiterns als Bedingung für Empowerment zu deuten und im Team zu meistern, also gemeinsam etwas zu schaffen. Mit dieser Präsenz-Deutung wäre man einen Schritt näher an Neuwegs „Könnerschaft“, die im Zuge der Kompetenzdiskussion manchmal etwas zu kurz kommt. 

Für 2022 wünsche ich mir, dass wir noch mehr als bisher mit Formen, Funktionen und Formaten von Online, Präsenz und allem Hybriden dieser Welt experimentieren, um eine ganze einfache Frage besser zu beantworten: Wie kann man heute, im 21. Jahrhundert, lebendiges Lernen wahrscheinlich machen? Und was bedeutet das für einen Lehrbegriff, der ja nur eines im Sinn hat: Lernen zu ermöglichen?

„Wandel durch Werte“ – Keynote beim Deutschen Olympischen Sportbund

Einmal im Jahr kommt die gesamte DOSB-Community zusammen, also Bildungsverantwortliche, Jugendbildungsreferent:innen und Wissenschaftskoordinator:innen der Spitzenverbände und Landesssportbünde, Vertreter:innen der Trainerakademie, Führungsakademie, des Instituts für Trainingswissenschaft, der Deutschen Olympischen Akademie, der Deutschen Sportjugend sowie der Bundeswehr und Bundespolizei. Das „Fachforum Bildung“ ist genau der Ort, wo Ideen und Konzepte rund um die Aus- und Weiterbildung ausgetauscht werden und man sich einfach mal wieder sieht.

In Zeiten von Corona ist das mit dem „Sehen“ so eine Sache. Erstmals wurde das Fachforum komplett online durchgeführt, und zwar verteilt über fast eine Woche: Am Montag den 15.11. fiel der Startschuss mit Keynote (dazu kommen wir noch), Mittwoch dann eine Vertiefung mit Kleingruppenarbeit in Break-Out-Rooms und am Donnerstag eine Fish Bowl mit Reflexionen auf die gemachten Erfahrungen.  Die Evaluation ist noch nicht abgeschlossen, aber die Stimme einer Teilnehmerin ist mir im Ohr: „Wir haben intensiver diskutiert als in der echten Präsenz!“ … und genau damit sind wir beim Thema.

Ich hatte dieses Jahr die Ehre, die Keynote für das Fachforum zu halten (zur Video-Aufzeichnung geht es hier). Das ist nicht nur schön, sondern bedeutet auch die Übernahme von Verantwortung, denn: Antworten zu geben in dieser verstörenden Corona-Zeit mit ihrer Zwangsdigitalisierung, Ausdünnung der Körperpräsenz und vielen Unsicherheiten, was die Zukunft betrifft, ist und bleibt herausfordernd.

Um die Antworten nicht zu kleinteilig zu machen, habe ich die Zuhörer:innen auf eine Zeitreise mitgenommen. Angefangen bei der „guten alten Präsenz“ von 2007 über die Erweiterung des Bildungsraums im „Blended Learning“ seit 2010, der Corona-Zäsur von 2020 mit der reinen Online-Präsenz, der Erweiterung in Richtung „Hybrid-Lehre“ von 2021 bis in eine Zukunft, die ich ab 2022 mit dem Begriff „Hybrid Spaces“ markiere. Was ist durch diese Zeitreise gewonnen?

Zum ersten war so zu erkennen, dass die fortschreitende Ausdifferenzierung des Online-Raums mit seinen Lernpraktiken und immer neuen Tools (VR, Video360, Kollaborationswerkzeuge etc.) einen hohen Innovationsdruck auf die analoge Vorort-Präsenz ausübt. Überspitzt formuliert: Warum soll ich für einen Vortrag oder auch Kleingruppenarbeit 500 km zu einer Sportschule fahren, wenn das online gut, vielleicht sogar besser geht? Eine Lösungsperspektive sehe ich im Begriff „Serendipity“, also der Fokussierung auf Körperliches, Emotionales, Zufälliges und Informelles, denn das, so die These, kann man schlecht digitalisieren, darin liegt der USP des Sports vor Ort und damit auch seiner zukünftigen Bildungsmaßnahmen!  

Zum zweiten wollte ich mit der Zeitreise zeigen, dass bei jedem Übergang, bei jeder Station unser Handeln durch „Werte“ bestimmt ist. Der Wandel (von Station zu Station) fällt also nicht vom Himmel, sondern basiert auf Werten oder wird von diesen zumindest getriggert. Geliebte „Begegnung“ in der alten Präsenz, kompetenzorientierte „Wirksamkeit“ mit Blended Learning, neue „Flexibilität“ durch Online-Präsenz bzw. Hybrid-Lehre. Und wovon wollen wir uns in der Zukunft leiten lassen?

Mein Vorschlag: Nicht von monolithischen Werten wie Begegnung oder Kompetenz oder Flexibilität, denn das unterminiert die Komplexität der Zukunft. Wie wäre es mit „Lebendigkeit“? Dieser intuitiv erfassbare Meta-Wert hat viele Werte in sich, die als Spannungsbögen aufgebaut sind, also z.B. „Körper und Geist“, „analog und digital“ oder „Selbst- und Fremdorganisation“. Lebendig wird es dann, wenn wir diese Spannungsbögen (es gibt viele davon) nicht nach einer Seite „vereindeutigen“ (Männer neigen dazu ?), sondern gerade die Mehrdeutigkeit und Unschärfe, also ein „Dazwischen“, aushalten oder noch besser: anstreben!

Ich bin also gespannt, ob die Zeitreise geholfen hat: bei der Frage, was eigentlich aktuell los ist und wo die Reise hingehen sollte. Innezuhalten und nachzudenken, ist auf jeden Fall wichtig zumindest dazu sollte diese wilde Zeit gut gewesen sein.