Neulich fuhr ich mit meinem Einkaufswagen durch den Supermarkt, mit Maske, wie sich das in Corona-Zeiten gehört. Plötzlich fiel vor meinen Wagen ein Kinderspielzeug auf den Boden … ein Kindergesicht lachte mich aus einem Buggy an.
Ich spürte schlagartig zwei Impulse in mir: Der erste galt dem Kind und dem runtergefallenen Kinderspielzeug, was man ja als gut erzogener Mann direkt aufhebt, um es den Kleinen wieder in die Hände zu drücken. Der zweite Impuls galt der Mutter, die ihr Kind vor potenziellen Coronaviren fernhalten will und daher vermutlich böse wäre, wenn ich die Quietschente direkt in die Kinderhände zurückgebe.
Diese widersprüchlichen und in etwa zeitgleichen Impulse fühlten sich in Summe schlecht an: für mein emotionales Kleinhirn wie für mein reflexives Großhirn. Nach etwa 1,25 Sekunden rollte ich schweigend und ohne Handlung am Kinderwagen vorbei, ich ließ das Kinderspielzeug links liegen, die Mutter hob es auf.
Alles nicht schlimm, oder?
Ich erzähle das hier nicht, um es öffentlich zu verarbeiten ?. Nein, ich erzähle es, weil es mich an eine Geschichte erinnert hat, die mir ein Freund vor ein paar Wochen erzählte.
Dieser Kollege brachte seine Tochter zum Kindergarten, nachdem dieser sieben Wochen geschlossen war – eine Ewigkeit aus Kindersicht. Die kleine Tochter freute sich also riesig, ihre Freundin wieder zu sehen. Etwa zeitgleich wurde die Freundin von ihrer Mutter zum Kindergarten gebracht. Die beiden sahen sich. Die Tochter meines Freundes lief freudestrahlend und mit ausgestreckten Armen auf ihre Freundin zu. Diese bleib stehen, wie versteinert, versteckte sich schließlich hinter ihrer Mutter.
Was war geschehen? Die Mutter (inklusive ihres Mannes) hält es für besser, wenn sich die Freundinnen bis auf weiteres nicht mehr umarmen, der Corona-Virus lässt das nicht zu. Nun will ich gar nicht über das Für und Wider streiten. Fakt ist, dass beide Freudinnen bitter weinten, die eine weil sie überhaupt nicht verstand, warum sich ihre beste Freundin so verweigerte, die andere, weil sie gefangen war zwischen der Vorgabe ihre Eltern „ja nicht ihre Freundin zu umarmen“ und ihrer inneren Stimme, ihre Freundin nach der langen Zeit „so sehr umarmen zu wollen“.
Mich interessiert an diesem Bild genau die letzte Szene: diese emotionale Zwickmühle, dieser doppelte und widersprüchliche Impuls, der vielleicht eine schwache Ähnlichkeit mit meinen Impulsen oben hat. Nur mit einem wichtigen und entscheidenden Unterschied!
Während ich – ein Erwachsener – mir solche emotional-kognitiven Zwickmühlen einigermaßen gut umgehen kann, durch Abstrahieren, Analysieren, Distanzieren, verbleiben die Zwickmühlen bei den Kindern unverarbeitet, denn: Ich glaube nicht, dass trotz aller Erklärung der Erwachsenen auf emotionaler Ebene eine Klärung und Erleichterung „im Herzen der Kinder“ stattfindet.
Was also tun? Wenn man schon nicht will, dass sich die Kleinen umarmen – wofür es ja Gründe geben mag –, so müssen wir uns doch viel mehr Gedanken machen, wie wir solche Erlebnisse „zur Sprache“ bringen können. Vielleicht ist (explizite) Sprache auch der falsche Modus, vielleicht ist es eher das Rollenspiel, das den Kindern ein Ventil geben könnte, denn hier geht es um das große Feld des impliziten (Körper-)Wissens. Mir scheint, hier müssen wir hinschauen, gemeinsam, ohne viele Worte.