PeaceClubs: Da spricht ein Träumer, oder?

Dieser Post wird keine Likes erzeugen … aber anfangen muss man doch!

Ende 2023 habe ich in einer kleinen Runde erstmals von „PeaceClubs“ gesprochen. Der Idee nach ging es um Orte für junge Menschen (auch die Alten können jung sein und die Jungen unglaublich alt), die sich z.B. im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres, mit der Idee des Friedens, seiner Voraussetzungen und seiner praktischen Durchsetzung befassen sollen: in einem Dorf, einer Stadt, in einem Bundesland, landesweit und vielleicht auch in und über die EU-Grenzen hinaus. Damit das nicht in einer Art „Friedenszirkel“ mit beschwörenden Räucherstäbchen ausartet, sollten diese Clubs (a) nicht nach dem heiligen und ewigen Frieden, sondern nach Möglichkeiten der Konfliktreduktion bzw. Konfliktregulation (Realziel) suchen, (b) dabei u.a. die anspruchsvolle Herausforderung rund um „soziale Dilemmata“ in den Blick nehmen und (c) nicht nur debattieren, sondern auch praktische (Zwischen-)Lösungen in Form von „Werken“ fabrizieren. Diese Werke sollten so niederschwellig und einladend sein, dass fast jeder Mensch sagen könnte: „Da kann ich im Prinzip – wenn ich meinen Hintern hochkrieg – mitmachen!“ Zwar sind damit die Großdebatten (wir brauche eine „neue Gesellschaft“ oder gar einen „neuen Menschen“) nicht ausgeschlossen; doch zumindest ein klitzekleines Problem dieser Welt sollte besser werden, wohlwissend, dass andere Probleme janusköpfig damit wieder entstehen. Alles, einfach alles hat seinen Preis! Soweit mal, … die Idee liegt seitdem auf meinem Schreibtisch und reift wie ein Schweizer Käse.

Das mit dem „Frieden“ fiel schon 2023 für mich nicht vom Himmel.

Ich bin aufgewachsen in einer Gastronomie-Familie – mit einer Gaststätte, die 1933 gegründet wurde. Im „Deutschen Haus“ kamen in der 1990ern u.a. Kriegsveteranen zusammen (damals alle um die 70 Jahre alt), die sonntags nach der heiligen Messe am Stammtisch Erinnerungen austauschten. Es gehört zu meinen persönlichen Theken-Erfahrungen, dass Anwesende regelmäßig bittere Tränen weinten. Sie berichteten dann u.a. vom Russlandfeldzug, vom großen Leid und wie sie ihre Freunde im Schnee zurücklassen mussten. Diese emotionalen Ausbrüche kamen also 50 (!) Jahre später noch wie aus dem Nichts herausgeschossen, was viel über seelische Wunden und Spätfolgen von Kriegen verrät. Solche Szenen endeten dann mit der Mahnung: „Nie wieder Krieg, unter keinen Umständen, hört ihr!“. Alle am Tisch schwiegen daraufhin und mir kroch dieses „stille Schweigen“ als junger Mann tief in die Knochen.  

Neben diesen Kriegsgeschichten gibt jetzt noch eine Reihe weiterer „Erfahrungen“, die in diese Richtung gehen: Der ohrenbetäubende Knall einer Handgranate, die ich als junger Funker bei der Bundeswehr werfen musste; die olympische Friedensbotschaft zum „gegenseitigen Respekt“ eines Pierre de Coubertin, die ich als Mitarbeiter an der Sporthochschule Köln erstmals mitbekam; die systemtheoretisch inspirierten Schriften von Sven Güldenpfennig, mit der Friedensmahnung, dass man im Sport „nur“, aber immerhin (!), lernt, trotz stärkster körperlich-emotionaler Grenzerfahrungen (z.B. Boxen, voll auf die Fresse) regeltreu zu bleiben; oder schließlich der gesellschaftliche „Friedensdienst“ zur Stärkung des Ehrenamtes im Sport durch Digitalisierung, den ich als Berater über fast zwei Jahrzehnte begleiten durfte.

Und? Was soll das jetzt, dieser lange Anlauf?

In einer Zeit, in der die Nachrichten von kriegerischen Übergriffen, Bombardements, Drohneneinsätzen, getöteten Männern, Frauen und Kindern nicht abreißen, Kinder diesseits und jenseits der Grenze, die Unschuldigsten auf beiden Seiten also, in der man sich im Zeichen der Zeitenwende darauf eingeschworen hat, Waffenlieferungen „immer mehr“ und Sanktionen „immer stärker“ seien die Mittel der Wahl, um Frieden zu sichern – eine Zeit, in der man als einfacher Mensch immer schwerer ein Argument findet, zu dem nicht auch ein gleich schweres Gegenargument passt, in der das Nachdenken und öffentliche Sprechen über Frieden als naiv disqualifiziert werden – wie sicherlich auch hier; eben in dieser Zeit ist es wichtig, über Frieden in wirklich all seinen Dimensionen (!) (im Zusammenhang auch von Klima, Armut, Wohlstand etc.) nachzudenken und nachzuforschen, darüber zu sprechen, um mögliche Schweigespiralen zu durchbrechen und idealerweise auch etwas Konkretes zu tun, auch dann, wenn dieses Tun zunächst keinen sichtbaren „Impact“ hat.

Ich ende heute mit einem konkreten Vorschlag, sich zumindest das einmal anzusehen: Das SPD-Manifest mit einer Friedenstaube im Logo ist KEIN Aufruf zu einem „reinen“ Pazifismus, wie ihn im Übrigen Albert Einstein vertreten hat. Auf den zwei Seiten geht es um eine Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent, mit all jenen, die hier leben und zusammenleben müssen. Es geht in diesem Manifest um die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit ohne fixe 5% Bindung und es geht um radikale Dialogbereitschaft, auch dann, wenn damit Nachteile verbunden sind.

Ich habe das Manifest unterschrieben, auch wenn man den Menschen, die das tun, „Realitätsverweigerung“ (Pistorius) vorwirft. Apropos Realität: Ich weiß, dass die klügsten WissenschaftlerInnen der Welt darüber streiten, wie man Realität überhaupt feststellt und noch mehr darüber uneins sind, was man tun muss, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ich bin also in guter Gesellschaft, ich bin unsicher und gerade deshalb muss man anfangen.

Friedensarbeit hat eine lange Inkubationszeit.

Context Counts

Kürzlich war ich zu Besuch in einer Kleinstadt im schönen Oberbayern. Der Abend wurde zufällig frei, weil meine Freundin dort nicht konnte. Also, was machen, in einer „Kleinstadt“? Da der Tag anstrengend war, fiel die Wahl auf Sauna; Entspannung ist ja immer gut. Fußläufig vom Bahnhof gibt’s eine Art Yogakurs-Fitness-Massage-Sauna-Physiotherapie-Center, also etwas von allem, für alle.

Pünktlich um 19 Uhr rief der Saunameister „Aufguss jetza!“ Es versammelten sich ca. zehn Personen im Alter zwischen 40 und 65, keine Fitnessmädels oder Muskelmänner, sondern Normalgewachsene wie du und ich. Man sitzt kuschelig hier in Bayern, man kennt sich. Als der dickbäuchige Saunameister die Tür von innen schließt, geht ein wohlwollendes Lächeln durch die Runde, als ob ein Programm beginnt. Ich selbst, Hamburger Ausländer mit Sauerländer Zungenschlag weiß von nix.

Nun folgt etwas, was ich dem Internet nur in Andeutungen anvertrauen darf. Der besagte Saunameister steht inmitten der Saunisten, sein Bauch ist 50 cm vor meinem Gesicht. Das Gesamtprozedere ist rein äußerlich durch drei Aufgüsse organisiert. Es beginnt mit: „I’hab eich bissl kristl-med mitgebracht, woos füers näsle“, er meint Duftkristalle mit Eukalyptus, die er auf die heißen Steine streut und mit einer dicken Wasserkelle beschüttet. „Kennt ir den?“ … fragt er auffordernd. Ohne auf die Antwort zu warten, fährt er mit einem Witz, oder besser mit einer Witzsalve, fort. Die Witze enthalten alles, wirklich alles, was auf der roten Liste steht oder was man aus Wirtshausszenen kennt: Wilde Sexualpraktiken, Chauvinistisches, Behinderungen aller Art, diese Ausländer … die Liste ist lang. Jeder Witz wird vom Publikum mit einem lauten Lachen honoriert. Ich mittendrin, synchronisiere mich mit dem Lachen, um nicht aufzufallen.         

Unweigerlich denkt man: Saunen in Bayern sind das Letzte! Zur Ehrenrettung sind nun drei Elemente wichtig: Es handelt sich hier um ein eingespieltes Team, Sprecher und Zuhörer befriedigen ihre Erwartungen, keiner wird verletzt. Im Raum sind echte Ausländer, die im gebrochenen Deutsch Witzfragmente lachend wiederholen oder eigene Interpretationen anschließen. Ich wette, keiner hier in der Sauna ist „da draußen“ diskriminierend oder ausgrenzend oder im Sprechen irgendwie billig. Das, was IM Raum „gespielt“ wird, ist nicht mit Maßstäben zu betrachten, die außerhalb des Raumes als ethisch korrekt gelten oder zum guten Ton und Umgang gehören.

Wie geht man jetzt mit sowas um? Die erste Variante ist die, dass einem das alles wurscht ist. Punkt. In der zweiten Variante regt man sich schrecklich auf, weil so etwas, egal wo, einfach nicht geht (Universalmoral). Die dritte Variante akzeptiert Sonderräume, in denen die Universalmoral „auf Zeit“ außer Kraft gesetzt ist (sie gilt weiterhin, nur eben draußen) und eine andere Moral leitend ist, die eben das Spiel dieses Sonderraums regelt. Das kann dann zu einer Art A-Moral führen, die aus gesellschaftlicher Perspektive verwerflich, für die Beteiligten aber hochfunktional ist.

Und, darf man das nun, über sowas lachen? Ich denke ja, rein pragmatisch, weil wir sonst alle Saunen in der Republik schließen könnten, denn auch anderswo geht es fröhlich zu. Aber eben auch, weil eine Gesellschaft nur durch solche kulturellen Sonderräume funktioniert. Das gilt im Großen, wenn wir uns die „böse“ Wirtschaft oder den „verschwenderischen“ Theaterbetrieb oder den „unmoralischen“ Sport anschauen oder im ganz Kleinen, in der Sauna, in der Menschen über Dinge gelacht haben, die ihnen draußen, im echten Leben, zu Recht die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Context Counts.

„Leben ist Töten“ … Nahaufnahme eines Redners

Eher durch Zufall war ich im März auf der Internationalen Tagung der Erich Fromm Gesellschaft, die in Bad Marienberg den 125. Geburtstag des Namensgebers feierte. „Fromm“, die Älteren erinnern sich: Die „Kunst des Liebens“ sowie „Haben oder Sein“ waren Büchlein, die man in der Jugend pflichtgemäß las oder verschlang, je nach Einstellung.

Anlass und Grund dieser Reise war kein aufflammendes Fromm-Interesse, obwohl die Zeiten danach schreien, sondern ein Vortrag von Klaus Eidenschink, der dort als Redner aufgeführt war. Für alle die es nicht wissen: Eidenschink ist ein „Wanderer zwischen den Welten“, Coach und Coach-Ausbilder mit eigenem Institut in München, von Haus aus Theologe, seit Jahrzehnten aber in Systemtheorie und Psychologie (und weiteren Hilfswissenschaften) zuhause. Von ihm stammen Bücher wie „Die Kunst des Konflikts“ oder „Entscheidung ohne Grund“ oder das „Verunsicherungsbuch“, die alle mit Gewinn lesen können, die mit Menschen zusammenarbeiten und dafür Verantwortung tragen. Ich denke man kann ihn als Meta-Theoretiker des Coachings (er hat eine eigenen Metatheorie zusammengestellt) oder intellektuellen Provokateur bezeichnen, der gern mal den psychologischen Mainstream gegen den Strich liest, … und schaut was passiert.  

Nun also Eidenschink – erstmals live vor meinen Augen – morgens 09.00, erstes Referat, Titel „Die Anatomie konfliktdynamischer Destruktivität“. Im ersten Teil ging er auf das Thema Konflikt ein: Was ist das? Wie entsteht er? Aber auch eher beiläufig, … „warum ich nicht vom Frieden rede.“ Man merkte schnell, Systemtheorie, Luhmann, gar nicht mal im komplizierten Sprechen, sondern im klaren Denken, neutral beschreibend, kein Evangelium, sondern zweiwertigen Pole, um zu sehen, was der Fall ist, ehe man interveniert. Weil die ZuhörerInnen für gewöhnlich in ihren Denkbahnen verharren – kopfnickend, zustimmend – zwischendurch kleine Bomben wie: „Leben ist Töten“ oder „Konfliktfreie Kommunikation, da halte ich nix von“. Solche Sätze „sitzen“, wir sind auf der Erich Fromm-Tagung, das Publikum seit Jahrzehnten geschult in allen Friedenstechniken und Konfliktvermeidungshaltungen 😊. Bricht der Widerstand offen zutage, ist Eidenschink hellwach und schnell dabei, die Stelle zu kitten, nicht durch eine Beschwichtigung, sondern z.B. mit dem Hinweis, dass jede Entscheidung eben AUCH Möglichkeiten ausschließt oder im Bild: Wenn der Zen-Meister durch den Tempel geht, tötet er Milben. Jedwedes Handeln hat Folgen und Nebenfolgen und damit auch das – gerade das –, was mit guter, friedlicher Absicht geschieht. 

Was mir bei Eidenschink gefallen und warum sich die Anwesenheit gelohnt hat: Dieses eigentümliche Sprechen mit einer inneren Leinwand, die Augen nach oben gerichtet, entrückt, aber bei sich, mit beiden Händen nach etwas greifend und jonglierend. Eine Sprechsequenz geht in etwa so: (1) Luhmannischer Einstieg, für den Ungeübten immer etwas befremdlich, z.B. „doppelte Kontingenz“, schwer zugänglich, bestenfalls hat man eine Ahnung. (2) Dann das Entgegenkommen mit einer bekannten Redewendung, bei ihm im bayerischen Grundton, in der das Gemeinte intuitiv anschaulich wird. (3) Jetzt ganz beim Publikum, ergänzend und mit Humor vorgetragen noch eine Art schauspielerischer Szene, z.B. „Frau kläfft, weil Mann ins Wirtshaus geht“, an der dann wieder etwas Abstraktes wie „zirkuläre Kausalität“ erklärt wird, … das Lachen im Publikum geht dann fließend in ein Nachdenken über: Abstraktum, Redewendung, Spielszene vermischen sich zu einer sinnigen und sinnlichen Figur. Ende der Sequenz, Ende der Beobachtung.  

20 Jahre Ghostthinker :-)

Anfang März 2005 habe ich die Ghostthinker GmbH gegründet (genau am 02.03.2005 war die Eintragung im Handelsregister beim Münchener Amt) – jetzt ist Ghostthinker 20 Jahre alt geworden. Daran faszinieren mich, als immer noch Gesellschafter, mehrere Dinge: Zum ersten bewahrheitet sich, wie rasend die Zeit vergeht – 20 Jahre, fast ein Vierteljahrhundert! Zum zweiten zeigt sich, dass „Unternehmertum in Deutschland“ möglich ist, auch in steilen Bereichen wie Education & Technology. Und drittens beglückt mich, dass sich in der Sportbildung (Trainerinnen und Trainer u.a.) ein anspruchsvoller und begründungsbedürftiger Kompetenzansatz (mit Social Video Learning als Kern) behaupten konnte, entgegen vielen Widrigkeiten (leichter, billiger, schneller geht’s scheinbar immer). 2025 haben 60.000 SchiedsrichterInnen des Deutschen Fußball Bundes (vgl. Schiri-Zeitung) „Ja“ zu edubreak gesagt, denn edubreak ist nicht eine nackte Technologie, sondern eine technologiebasierte Didaktik mit eingebetteter Beteiligungskultur: Beteiligung ist intensiv, soziale Beziehungen brauchen Zeit, mentale Anstrengungen bedeuten Schweiß, aber man bekommt auch viel und für den TrainerInnen-Job Wesentliches zurück. Wichtig ist, was langfristig unterm Strich herauskommt, der Social Impact. Wer heute so denkt, wird entweder schief angeschaut oder gefeiert. Heute kann gefeiert werden. 

Prä-emphatische Zusammenarbeit: Zustimmung und drei Thesen

In meinem letztens Blogbeitrag hatte ich die „Prä-empathische Zusammenarbeit“ von Jöran Muuß-Mehrholz etwas einsilbig aufgegriffen, was dem Züricher Gesamteindrücken geschuldet war. Nun also nochmal etwas ausführlicher.

In einem aktuellen Blogbeitrag beleuchtet Jöran unterschiedliche Aspekte der „Zusammenarbeit“. Dabei geht es ihm darum, nach den großen Superlativen (McKinsey sagt’s) und kleinen Anleitungen (Hacks & Tipps) ein „Mittelfeld mit Substanz“ zu bestimmen, was aus einer sozialen Perspektive viel mit Vereinheitlichung, Absprachen und Standards zu tun hat und technisch mit Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität bestimmt werden kann. Oder einfacher: Weil die Daten in der Cloud liegen und von allen jederzeit von überall eingesehen und verändert werden können, darum braucht es eine gemeinsame Strategie, damit Zusammenarbeit gelingt. Er nennt das das „Handwerk des Teilens“, was vom Sound – gewollt oder ungewollt –nah an Peter Bieris „Handwerk der Freiheit“ liegt, also an einer reflexiven Handlungspraxis, die den Kopf im Himmel der Ideale und die Füße auf der Erde des Notwendigen hat. Wo soll also dieses Handwerk herkommen?

Eines ist sicher, ein Handwerk fällt nicht vom Himmel, es wird vielmehr gemacht. So wie Schule heute organisiert ist, lernen SchülerInnen nicht das Handwerk des Teilens, sondern das Handwerk der „Alleinarbeiten“ (Jöran): Allein arbeite man dann, wenn man Kontrolle behalten will, Kontrolle über Lernziele- und -inhalte, über methodische Formen der Prozess- und Prüfungsgestaltung sowie Kontrolle über die Illusion, was am Ende gelernt wurde, so könnte man sagen.

Was wäre also zu tun, um solche Kontrollüberzeugungen zu ändern? Man kann innovative Projekte an Schulen starten (Trojanisches Pferd, Katalysator), man kann die Fortbildung von LehrerInnen z.B. mit neuen Methoden und dem Begründungswissen von Jöran anreichern. Aber reicht das? Jöran betont in einem eigenen Blogbeitrag, dass „Schule unglaublich stabil ist“, viele Dinge sich also nicht oder unzureichend ändern; es hat den Anschein, als wolle sich „das System“ nicht in Richtung eines neuen Zustands hin verändern.

Ich habe drei Thesen, die man diskutieren könnte.

Zum ersten bin ich der festen Überzeugung, dass man Systeme, wie die Schule, nur dann ändern kann, wenn man AUCH den Ort berücksichtigt, wo sich das System selbst reproduziert, und das ist zumindest zum Teil die Referendariatsausbildung. Dort, in der zweiten Ausbildungsphase, werden angehende LehrerInnen auf Ihre Arbeitspraxis hin „geprägt“, nachhaltig geprägt, was manchmal nah an einer lebenslangen Schädigung liegt. Hier gilt es also, die AusbilderInnen (und die Leitungen) davon zu überzeugen, dass digitale Zusammenarbeit keine modische Methodenübung ist, sondern eine auch lustvolle Abgabe von Kontrolle zugunsten eines didaktischen Mehrwertes sein kann, der gerade durch den Kontrollverlust entsteht. Und das darf man nicht blutleer erklären oder gar „vermitteln“, sondern das muss in experimenteller Praxis erprobt, erfahren und langfristig eingeübt werden, denn: Man muss das Driften lernen, um eine neue und höherwertige Form der Kontrolle zu etablieren. Was mich zum zweiten Punkt bringt.

Ich glaube zum zweiten, dass das Mantra des Paradigmenwechsels (die großen Shifts), hier „gute“ Zusammenarbeit und dort „schlechte“ Alleinarbeit, Teil des Problems ist. Zwar ist es richtig, dass wir gerade für eine digitale Arbeitswelt fast völlig blank an methodischer Kompetenz sind, wie wir Zusammenarbeit organisieren, wir brauchen das also (Zusammenarbeit 4.0)! Aber: Wir sind auch völlig unzureichend vorbereitet auf intensive Formen der Alleinarbeit, die man ganz zweifellos in einer digitalen Arbeitswelt AUCH braucht; allein das akademische Studium besteht zu ca. 50% aus Alleinarbeit (dem Selbststudium, angeleitet und frei) und auch in der Arbeitswelt kann und sollte nicht alles in Form von Kooperation und Kollaboration stattfinden. Denn auch hier ist die tiefe Einzelarbeit sinnvoll, von Fall zu Fall, von Phase zu Phase, von Problem zu Problem. Wichtig ist also die „Wechselkompetenz“, wann welche Form der Arbeit funktional ist, das müssen wir lernen. Was mich zu einer dritten These führt.

Alle Formen der Arbeit und des Lernens sind gebunden an etwas sehr Schnödem (was man heute nicht mehr gerne hört): Disziplin! Ich kenne genügend Vorhaben oder Versprechen, in denen beim Start alle Feuer und Flamme sind, zusammenzuarbeiten, klar, was sonst?! Doch dann wartet man wieder Tage auf Rückmeldung oder die abgesprochenen Beiträge kommen erst weit nach der Deadline. Deadline, da stirbt im Übrigen keiner mehr, manchmal wachen die Leute erst auf. Disziplin kennt auch die Alleinarbeit, der innere Schweinehund ist eine gute Metapher für den inneren Gegenspieler, den man überwinden muss.  

Man merkt an diesen Thesen: Von einer Vereinseitigung halte ich wenig, Allein- und Zusammenarbeit gehören zusammen (Arbeitsformen), genauso wie Disziplin und Kontrollverlust (Tugenden) oder Ausbildung- und Fortbildung (institutionelle Settings). Das macht das Ganze auf den ersten Blick nicht leichter, weil es nach „mehr und unentschieden“ klingt. Ich denke aber, dass ein guter Teil der Reformkrisen (in Bildungssystemen) auf die Kappe von unterkomplexen Lösungsformeln geht. Klar, wir müssen alle „irgendwo anfangen“ (verführerisch einfach und eindeutig, um einen Fuß in der Tür zu haben), aber ich vermute, dass eine nachhaltige Vorgehensweise eher drin liegt, auf Widersprüchliches und Mehrdeutiges vorzubereiten und das auch von Anfang an zum Thema zu machen! Widersprüchliches und Mehrdeutiges nicht nur auszuhalten, sondern (gemeinsam) daran auch noch Spaß zu haben, das ist keine Unmöglichkeit, sondern eine echte Future Skill.

Pre-empathische Zusammenarbeit … what the hell?

In der ersten Kalenderwoche des neuen Jahres war ich in Zürich. Anstoß war ein LinkedIn-Werbevideo von Beat Döbeli Honegger & Jöran Muuß-Merholz, in dem die beiden auf das Buch „Zusammenarbeit 4.0“ von Jöran mit Vorstellung eben in Zürich aufmerksam machten. Ich dachte: Warum nicht?

Den Vorabend verbrachte ich mit Beat und Ben Hüter. Wir sprachen über Bildungspolitik, über Nichtneutralität von Lernumgebungen und über Bildungsservices zwischen Hochschule und Privatwirtschaft. Wenn man älter wird – wir sind in den 50ern -, dann gewinnt der Begriff der Ambivalenz (noch mehr) an Bedeutung.

Der nächste Morgen war geprägt von einem Fachgespräch zwischen Ben und mir. Auf der Agenda stand VR (Multiplayer) mit KI für den Kontext Berufsbildung. Hier geht viel Neues. Mich treibt das Thema der didaktischen Rahmung um: Warum und wofür VR genau? Für welches Problem oder zu welchem Zweck? Und nach dem ‚Eintauchen‘ kommt was? Wie ergänzt man dieses technologiegestützte Eintauchen mit dem Eintauchen in eine real-analoge Situation, mit Haut und Haar? In welchem Verhältnis steht Eintauchen zur Reflexion? Noch ein paar Fragen offen 😊, aber es wird!

Auf Hinweis von Klaus Eidenschink habe ich Zürich auch zum Besuch der Kunst-Ausstellung von Marina Abramović genutzt. Mich interessieren ‚Gefühle‘ und ‚Wahrnehmung‘ unter menschlich-existenzialem Gesichtspunkt, u.a. im Kontext der KI-Entwicklungen (the human core). Nur kurz und exemplarisch: Die primär performative Videokunst ist verstörend, dass ist gewollt. Man sieht eine schreiende Frau im Selbstexperiment, über 9 Stunden, bis die Stimme versagt. Man sieht eine Frau mit Menschenskelett auf dem Bauch, skurrile Intimität zwischen Körpern. Ich hatte das Glück bei einer Live-Performance dabei zu sein: Nackte, schöne Frau „schwebt“ auf einem Fahrradsattel sitzend an der weißen Wand. Nach dem ich die schöne Form hinter mir lassen konnte, „sah“ ich den Schattenwurf und ich (!) „spürte“ körperlich – schwitzend und herzklopfend – die enorme Körperanspannung der Künstlerin da an der Wand über endlose 20 Minuten. Ich dachte kurz: Frauen können das, schwebend, meditativ und würdevoll. Wir doch Jämmerlichen …

Zürich endete aber mit etwas sehr Weltlichem: Am späten Nachmittag dann die Vorstellung des Buches „Zusammenarbeit 4.0“. Nach gastfreundlicher Begrüßung durch Gabriela Keller und kurzweiliger Einleitung von Beat in den Räumen der ergon AG erläuterte Jöran seinen Ansatz „Pre-empathische Zusammenarbeit“. Ich habe es mit einem „Kant-Merker“ verstanden:

„Handle so, dass du dem anderen (und dir) keine unnötige Arbeit machst – auch nicht in der Zukunft“:

richtiger Dateiname, den auch andere im System wiederfinden, Meeting-Einladungen nur mit Agenda (Wer, Was, Wo, Warum) zur Orientierung und auch erst dann auf Senden klicken, gemeinsame Online-Docs statt isolierender e-Mail oder Chat-Silos. So ging es weiter, von der Mikro- bis zur Makroebene. Ich fühlte mich an beste Ghostthinker-Zeiten erinnert, da wurde diese Kultur fast 20 Jahre „kultiviert“. Im Anschluss dann Gruppendiskussion in reiner Informatiker-Runde (alles Männer). Ich sagte:

„Das ist alles vernünftig, weil rational. Doch was ist mit Personen, denen das Ganze den Hals zuschnürt, die nicht vollständig ‚Rationalitätstauglichen‘.“

Vier Informatiker-Augen schauen mich ratlos an, Jöran kannte das Problem, spricht von Risikoabwägung und Maßnahmenanpassung, weitere Rationalisierung „next level“. Mir ging es bei meiner Frage um Grundsätzliches (nicht Pragmatisches), um die schleichende „Formalisierung des Menschen“. Abramovićs Kunst kann man vor diesem Hintergrund auch als Mahnung lesen.

Wir bringen uns in Organisationen immer mehr mit rationalen Gründen, freiwillig „in Form“. Darin sind Wildheit, Gefühle, Wahrnehmung – the human core – Störenfriede. Ich denke, wir müssen hier noch mal RICHTIG nachdenken. Mich hätte wahrscheinlich am Ende ein Titel „emphatische Zusammenarbeit“ mehr inspiriert, nicht um Gefühlen ein Primat einzuräumen, sondern um den Horizont offen zu halten, wie wir den „Resonanzzwang des Menschen“ (Eidenschink) mit legitimen und nicht-legitimen Formierungen zusammen kriegen. Das ist die Art von „Zusammenarbeit“, die wir in einem Mensch-KI-Maschinen-Zeitalter stemmen müssen.

Der Mensch hält unendlich viel aus – wie die Frau an der Wand – er zerbricht aber auch unendlich leicht … meist still und leise.

Paradoxien und KI-Nutzung

Joscha Falck hat in einem Blogbeitrag https://lnkd.in/eJDYqeUb auf 9 Paradoxien im Umgang mit KI in der Schule aufmerksam gemacht. Das ist ein wichtiger Punkt, die Paradoxien, denn sie zeigen, dass Wohl und Wehe bei der KI-Nutzung in der Bildung (!) eng zusammen liegen. Das Neue ist also nicht gut oder schlecht sondern erzeugt mindestens zwei Seiten, die in Spannung stehen und die man aushalten muss (vgl. Antinomisches Prinzip).

Falck sagt: „Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen.“ Hier möchte ich ergänzen: Wir müssen uns in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als Lernende sondern als F o r s c h e n d e verstehen! Das hat Implikationen für das Mindset, Skillset und Toolset von SchülerInnen und LehrerInnen, der Administration, aber auch für WissenschaftlerInnen, die sich an dieser forschenden Praxis der Veränderung (schnell, komplex, reflexiv) hilfreich beteiligen möchten.

Absichtslosigkeit

In letzter Zeit lese und höre ich gerne etwas von Klaus Eidenschink. In seinen Büchern oder frei zugänglichen Aufsätzen (mit dem nostalgischen Zusatz „Fassung zum persönlichen Gebrauch“) oder in seinen Videos gibt er mir regelmäßig etwas zum tiefen Nachdenken und Nachempfinden mit. Das Besondere, was mich reizt wie irritiert, ist seine kontraintuitive Position, z.B.: Dass man Konflikte „gleichermaßen schüren wie beruhigen“ können müsse oder dass es im Coaching nicht darum gehen soll, „das Problem weg zu machen“ oder das im Management in der Regel „nichts entschieden“ wird … die Liste ist lang. Seine von Philosophie, Systemtheorie und Psychologie gestützten Ausführungen führen nicht zu einem „Malen mit Zahlen“. Ganz im Gegenteil: Man sitzt nach der Lektüre unentschieden „auf dem Zaun“, ist aber wachsamer gegenüber den einmaligen Situationen, in der wir uns als Coaches, Managerinnen oder einfach Menschen ständig verstricken. Gegen diese Verstricktheit gibt es nicht das eine Mittel; ‚Absichtlosigkeit‘ ist ein von Eidenschink empfohlener Rat, den man aber in einer Welt voller Absichten erstmal aushalten muss.

Learning AID 2024

Gestern war ich auf der Learning AID 2024, eine Konferenz, die seit drei Jahren am Start ist und sich auf das Thema „KI & Hochschulbildung“ spezialisiert hat. Ich möchte nur zwei Punkte herausgreifen, die mir gefallen haben: Zum einen konnte ich im Vortrag von Herrn Stracke (Uni Bonn) erfahren, dass es ein „Netzwerk ethische Nutzung von KI“ gibt, das u.a. eine leichtgewichtige Handreichung für die Hochschule erarbeitet hat, und dass für das Thema eine spezielle europäische Institution existiert: das „Council of Europe“. Toll! Letzteres wusste ich nicht, und es ist sehr wichtig, weil der AI-Act viel zu allgemein formuliert ist, um „Bildung“ zu schützen. Zum zweiten war die Podiumsdiskussion interessant. Mit Marco Kalz, Gabi Reinmann, Anika Limburg und Inga Gostmann waren Stimmen aus der Professorenschaft, dem Mittelbau und der Studierendenschaft vertreten. Die Diskussion drehte sich um Fragen der KI in der Hochschullehre: von Prompting-Kompetenz über neue Prüfungen bis zu bildungsphilosophischen Forschungsansätzen. Dass die Hochschule vor dem Hintergrund der KI-Entwicklungen „grundlegend neu zu denken ist“, formulierten alle. Orientierung wollen die „Future Skills“ geben, zu der Marco und Gabi einen kritischen Beitrag verfasst haben. Schließlich wurde noch auf zwei Begriffe hingewiesen, die mir besonders gefallen haben: Beziehungsqualität und Vertrauen. Ja, ohne diesen „humanoiden Kern“ wird es in der KI-Zukunft nicht gehen – für alle Institutionen, die formale Bildung betreiben, eine Herausforderung!

Design mit Theorie, nicht ganz ohne

Als ich mit Gabi vor ca. 15 Jahren meinen ersten und bisher einzigen Artikel zum Thema „Design-Based Research“ schrieb, wusste ich nicht, dass mich das Thema noch lange begleiten würde. Zum einen konnte ich Gabi bei ihrem über 20-jährigen „Ringen“ zu DBR über die Schulter schauen; bei uns gibt’s zum Frühstück nicht selten Text- und Ideenfragmente als Geistesnahrung mit Bitte um Feedback 😉. Zum anderen habe ich selbst in den letzten beiden Jahrzehnten im Kontext der Beratung von Organisationen dabei mitmachen dürfen, diese zu verändern, und das läuft darauf hinaus, Neues zu erfinden, dieses Neue in der Praxis zu pilotieren und das, was man lernt, zu etwas Systematischem zu ordnen.

Dass das Letztgenannte etwas mit „Design“ zu tun hat, habe ich erst in tieferer Auseinandersetzung mit dem neuen Buch „Forschendes Entwerfen“ (Freier Download, cc) von Gabi Reinmann, Dominikus Herzberg und Alexa Brase verstanden. Warum?

Normalerweise denken wir uns Veränderungsprozesse in Organisationen als Phasen: Analyse, Ideen- und Prototypenentwicklung (Design), Umsetzung, Evaluation, Re-Design. Viele DBR-Modelle haben diese Grundfigur der Phasen übernommen und man erkennt schnell, dass „Design“ typischerweise nur an zwei Stellen explizit wird, nämlich beim „Konzept“ und bei der „Weiterentwicklung des Konzepts“. Design bleibt damit im Veränderungsprozess etwas Selektives und am Ende etwas für Schön- oder Schöpfergeister.

Die Autoren von „Forschendes Entwerfen“ gehen mit Inspiration des Schweizer Designforschers und Architekten Simon Kretz einen anderen Weg: Bei ihnen ist das „Entwerfen“ (= Designhandlung) theoretisch wie praktisch an alle (!) Phasen des Veränderungs- und Erkenntnisprozesses gebunden, das heißt: Man entwirft und erkennt, wenn man neue Ideen erfindet (immer in Rückgriff auf und im Abgleich mit Theorien, Normen und Standards, die es schon gibt), man entwirft und erkennt, wenn man das Konzept in der Praxis projektiert (und dabei merkt, wie widerständig die Praxis gegenüber der Idee ist), man entwirft und erkennt, wenn man die Passungen und Nichtpassung von Idee und Projektierung systematisch ordnet (und sieht, wo Invarianten oder lokale Prinzipien stecken). Der theoretische wie praktische „Clou“ liegt in der Gleichzeitigkeit von erfindenden, projektierenden und ordnenden Handlungen, wobei Gleichzeitigkeit eher ein Oszillieren des Bewusstseins meint, ein „in der Luft halten und Bezugnehmen“ sehr unterschiedlicher Gegenstände und Prozesse. Es kann also sein, dass ich gerade ein Konzept erfinde (Phasenbezug), aber „ich tue das in einer Weise“, dass ich durch Gedankensimulation die Idee praktisch projektiere und durch Antizipation der Ergebnisse Ordnung schaffe, die mich zu ersten, wenn auch vagen, Erkenntnissen führen. Es geht also nicht mehr um einen „Dreischritt“, sondern um einen „Dreiklang“, ein gleichzeitiges Jonglieren und Variieren mit den drei Entwurfs- oder Designhandlungen. Mit dieser Metapher lässt sich der innovative Kern fassen.

Die Abbildung 4 aus dem Buch (S. 35) zeigt diesen „Shift“ vom Dreischritt zum Dreiklang; eine unscheinbare Grafik, die es aber in sich hat, weil damit der Übergang von einer „objektivistischen“ Phasenstruktur hin zu einer handlungstheoretischen Ordnung getan ist, was – wenn man so will – methodologische, epistemische, ontologische und anthropologische Konsequenzen hat.

Die Leistung des Buches liegt nicht in der Herausarbeitung dieser Hintergrund-Dimensionen, sondern darin, DBR erstmals konsequent von der Designtheorie her zu denken sowie in der Beantwortung der Frage, wie man im Kontext der Hochschule eine designbasierte Bildungsforschung methodisch praktisch betreibt. Der Gewinn liegt also genau in dieser „Brücke“ zwischen eleganter Theorie und hilfreichen Methoden, einschließlich der Standards, die diese Brückenbegehung sichern sollen.