Prä-emphatische Zusammenarbeit: Zustimmung und drei Thesen

In meinem letztens Blogbeitrag hatte ich die „Prä-empathische Zusammenarbeit“ von Jöran Muuß-Mehrholz etwas einsilbig aufgegriffen, was dem Züricher Gesamteindrücken geschuldet war. Nun also nochmal etwas ausführlicher.

In einem aktuellen Blogbeitrag beleuchtet Jöran unterschiedliche Aspekte der „Zusammenarbeit“. Dabei geht es ihm darum, nach den großen Superlativen (McKinsey sagt’s) und kleinen Anleitungen (Hacks & Tipps) ein „Mittelfeld mit Substanz“ zu bestimmen, was aus einer sozialen Perspektive viel mit Vereinheitlichung, Absprachen und Standards zu tun hat und technisch mit Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität bestimmt werden kann. Oder einfacher: Weil die Daten in der Cloud liegen und von allen jederzeit von überall eingesehen und verändert werden können, darum braucht es eine gemeinsame Strategie, damit Zusammenarbeit gelingt. Er nennt das das „Handwerk des Teilens“, was vom Sound – gewollt oder ungewollt –nah an Peter Bieris „Handwerk der Freiheit“ liegt, also an einer reflexiven Handlungspraxis, die den Kopf im Himmel der Ideale und die Füße auf der Erde des Notwendigen hat. Wo soll also dieses Handwerk herkommen?

Eines ist sicher, ein Handwerk fällt nicht vom Himmel, es wird vielmehr gemacht. So wie Schule heute organisiert ist, lernen SchülerInnen nicht das Handwerk des Teilens, sondern das Handwerk der „Alleinarbeiten“ (Jöran): Allein arbeite man dann, wenn man Kontrolle behalten will, Kontrolle über Lernziele- und -inhalte, über methodische Formen der Prozess- und Prüfungsgestaltung sowie Kontrolle über die Illusion, was am Ende gelernt wurde, so könnte man sagen.

Was wäre also zu tun, um solche Kontrollüberzeugungen zu ändern? Man kann innovative Projekte an Schulen starten (Trojanisches Pferd, Katalysator), man kann die Fortbildung von LehrerInnen z.B. mit neuen Methoden und dem Begründungswissen von Jöran anreichern. Aber reicht das? Jöran betont in einem eigenen Blogbeitrag, dass „Schule unglaublich stabil ist“, viele Dinge sich also nicht oder unzureichend ändern; es hat den Anschein, als wolle sich „das System“ nicht in Richtung eines neuen Zustands hin verändern.

Ich habe drei Thesen, die man diskutieren könnte.

Zum ersten bin ich der festen Überzeugung, dass man Systeme, wie die Schule, nur dann ändern kann, wenn man AUCH den Ort berücksichtigt, wo sich das System selbst reproduziert, und das ist zumindest zum Teil die Referendariatsausbildung. Dort, in der zweiten Ausbildungsphase, werden angehende LehrerInnen auf Ihre Arbeitspraxis hin „geprägt“, nachhaltig geprägt, was manchmal nah an einer lebenslangen Schädigung liegt. Hier gilt es also, die AusbilderInnen (und die Leitungen) davon zu überzeugen, dass digitale Zusammenarbeit keine modische Methodenübung ist, sondern eine auch lustvolle Abgabe von Kontrolle zugunsten eines didaktischen Mehrwertes sein kann, der gerade durch den Kontrollverlust entsteht. Und das darf man nicht blutleer erklären oder gar „vermitteln“, sondern das muss in experimenteller Praxis erprobt, erfahren und langfristig eingeübt werden, denn: Man muss das Driften lernen, um eine neue und höherwertige Form der Kontrolle zu etablieren. Was mich zum zweiten Punkt bringt.

Ich glaube zum zweiten, dass das Mantra des Paradigmenwechsels (die großen Shifts), hier „gute“ Zusammenarbeit und dort „schlechte“ Alleinarbeit, Teil des Problems ist. Zwar ist es richtig, dass wir gerade für eine digitale Arbeitswelt fast völlig blank an methodischer Kompetenz sind, wie wir Zusammenarbeit organisieren, wir brauchen das also (Zusammenarbeit 4.0)! Aber: Wir sind auch völlig unzureichend vorbereitet auf intensive Formen der Alleinarbeit, die man ganz zweifellos in einer digitalen Arbeitswelt AUCH braucht; allein das akademische Studium besteht zu ca. 50% aus Alleinarbeit (dem Selbststudium, angeleitet und frei) und auch in der Arbeitswelt kann und sollte nicht alles in Form von Kooperation und Kollaboration stattfinden. Denn auch hier ist die tiefe Einzelarbeit sinnvoll, von Fall zu Fall, von Phase zu Phase, von Problem zu Problem. Wichtig ist also die „Wechselkompetenz“, wann welche Form der Arbeit funktional ist, das müssen wir lernen. Was mich zu einer dritten These führt.

Alle Formen der Arbeit und des Lernens sind gebunden an etwas sehr Schnödem (was man heute nicht mehr gerne hört): Disziplin! Ich kenne genügend Vorhaben oder Versprechen, in denen beim Start alle Feuer und Flamme sind, zusammenzuarbeiten, klar, was sonst?! Doch dann wartet man wieder Tage auf Rückmeldung oder die abgesprochenen Beiträge kommen erst weit nach der Deadline. Deadline, da stirbt im Übrigen keiner mehr, manchmal wachen die Leute erst auf. Disziplin kennt auch die Alleinarbeit, der innere Schweinehund ist eine gute Metapher für den inneren Gegenspieler, den man überwinden muss.  

Man merkt an diesen Thesen: Von einer Vereinseitigung halte ich wenig, Allein- und Zusammenarbeit gehören zusammen (Arbeitsformen), genauso wie Disziplin und Kontrollverlust (Tugenden) oder Ausbildung- und Fortbildung (institutionelle Settings). Das macht das Ganze auf den ersten Blick nicht leichter, weil es nach „mehr und unentschieden“ klingt. Ich denke aber, dass ein guter Teil der Reformkrisen (in Bildungssystemen) auf die Kappe von unterkomplexen Lösungsformeln geht. Klar, wir müssen alle „irgendwo anfangen“ (verführerisch einfach und eindeutig, um einen Fuß in der Tür zu haben), aber ich vermute, dass eine nachhaltige Vorgehensweise eher drin liegt, auf Widersprüchliches und Mehrdeutiges vorzubereiten und das auch von Anfang an zum Thema zu machen! Widersprüchliches und Mehrdeutiges nicht nur auszuhalten, sondern (gemeinsam) daran auch noch Spaß zu haben, das ist keine Unmöglichkeit, sondern eine echte Future Skill.

Pre-empathische Zusammenarbeit … what the hell?

In der ersten Kalenderwoche des neuen Jahres war ich in Zürich. Anstoß war ein LinkedIn-Werbevideo von Beat Döbeli Honegger & Jöran Muuß-Merholz, in dem die beiden auf das Buch „Zusammenarbeit 4.0“ von Jöran mit Vorstellung eben in Zürich aufmerksam machten. Ich dachte: Warum nicht?

Den Vorabend verbrachte ich mit Beat und Ben Hüter. Wir sprachen über Bildungspolitik, über Nichtneutralität von Lernumgebungen und über Bildungsservices zwischen Hochschule und Privatwirtschaft. Wenn man älter wird – wir sind in den 50ern -, dann gewinnt der Begriff der Ambivalenz (noch mehr) an Bedeutung.

Der nächste Morgen war geprägt von einem Fachgespräch zwischen Ben und mir. Auf der Agenda stand VR (Multiplayer) mit KI für den Kontext Berufsbildung. Hier geht viel Neues. Mich treibt das Thema der didaktischen Rahmung um: Warum und wofür VR genau? Für welches Problem oder zu welchem Zweck? Und nach dem ‚Eintauchen‘ kommt was? Wie ergänzt man dieses technologiegestützte Eintauchen mit dem Eintauchen in eine real-analoge Situation, mit Haut und Haar? In welchem Verhältnis steht Eintauchen zur Reflexion? Noch ein paar Fragen offen 😊, aber es wird!

Auf Hinweis von Klaus Eidenschink habe ich Zürich auch zum Besuch der Kunst-Ausstellung von Marina Abramović genutzt. Mich interessieren ‚Gefühle‘ und ‚Wahrnehmung‘ unter menschlich-existenzialem Gesichtspunkt, u.a. im Kontext der KI-Entwicklungen (the human core). Nur kurz und exemplarisch: Die primär performative Videokunst ist verstörend, dass ist gewollt. Man sieht eine schreiende Frau im Selbstexperiment, über 9 Stunden, bis die Stimme versagt. Man sieht eine Frau mit Menschenskelett auf dem Bauch, skurrile Intimität zwischen Körpern. Ich hatte das Glück bei einer Live-Performance dabei zu sein: Nackte, schöne Frau „schwebt“ auf einem Fahrradsattel sitzend an der weißen Wand. Nach dem ich die schöne Form hinter mir lassen konnte, „sah“ ich den Schattenwurf und ich (!) „spürte“ körperlich – schwitzend und herzklopfend – die enorme Körperanspannung der Künstlerin da an der Wand über endlose 20 Minuten. Ich dachte kurz: Frauen können das, schwebend, meditativ und würdevoll. Wir doch Jämmerlichen …

Zürich endete aber mit etwas sehr Weltlichem: Am späten Nachmittag dann die Vorstellung des Buches „Zusammenarbeit 4.0“. Nach gastfreundlicher Begrüßung durch Gabriela Keller und kurzweiliger Einleitung von Beat in den Räumen der ergon AG erläuterte Jöran seinen Ansatz „Pre-empathische Zusammenarbeit“. Ich habe es mit einem „Kant-Merker“ verstanden:

„Handle so, dass du dem anderen (und dir) keine unnötige Arbeit machst – auch nicht in der Zukunft“:

richtiger Dateiname, den auch andere im System wiederfinden, Meeting-Einladungen nur mit Agenda (Wer, Was, Wo, Warum) zur Orientierung und auch erst dann auf Senden klicken, gemeinsame Online-Docs statt isolierender e-Mail oder Chat-Silos. So ging es weiter, von der Mikro- bis zur Makroebene. Ich fühlte mich an beste Ghostthinker-Zeiten erinnert, da wurde diese Kultur fast 20 Jahre „kultiviert“. Im Anschluss dann Gruppendiskussion in reiner Informatiker-Runde (alles Männer). Ich sagte:

„Das ist alles vernünftig, weil rational. Doch was ist mit Personen, denen das Ganze den Hals zuschnürt, die nicht vollständig ‚Rationalitätstauglichen‘.“

Vier Informatiker-Augen schauen mich ratlos an, Jöran kannte das Problem, spricht von Risikoabwägung und Maßnahmenanpassung, weitere Rationalisierung „next level“. Mir ging es bei meiner Frage um Grundsätzliches (nicht Pragmatisches), um die schleichende „Formalisierung des Menschen“. Abramovićs Kunst kann man vor diesem Hintergrund auch als Mahnung lesen.

Wir bringen uns in Organisationen immer mehr mit rationalen Gründen, freiwillig „in Form“. Darin sind Wildheit, Gefühle, Wahrnehmung – the human core – Störenfriede. Ich denke, wir müssen hier noch mal RICHTIG nachdenken. Mich hätte wahrscheinlich am Ende ein Titel „emphatische Zusammenarbeit“ mehr inspiriert, nicht um Gefühlen ein Primat einzuräumen, sondern um den Horizont offen zu halten, wie wir den „Resonanzzwang des Menschen“ (Eidenschink) mit legitimen und nicht-legitimen Formierungen zusammen kriegen. Das ist die Art von „Zusammenarbeit“, die wir in einem Mensch-KI-Maschinen-Zeitalter stemmen müssen.

Der Mensch hält unendlich viel aus – wie die Frau an der Wand – er zerbricht aber auch unendlich leicht … meist still und leise.

Paradoxien und KI-Nutzung

Joscha Falck hat in einem Blogbeitrag https://lnkd.in/eJDYqeUb auf 9 Paradoxien im Umgang mit KI in der Schule aufmerksam gemacht. Das ist ein wichtiger Punkt, die Paradoxien, denn sie zeigen, dass Wohl und Wehe bei der KI-Nutzung in der Bildung (!) eng zusammen liegen. Das Neue ist also nicht gut oder schlecht sondern erzeugt mindestens zwei Seiten, die in Spannung stehen und die man aushalten muss (vgl. Antinomisches Prinzip).

Falck sagt: „Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen.“ Hier möchte ich ergänzen: Wir müssen uns in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als Lernende sondern als F o r s c h e n d e verstehen! Das hat Implikationen für das Mindset, Skillset und Toolset von SchülerInnen und LehrerInnen, der Administration, aber auch für WissenschaftlerInnen, die sich an dieser forschenden Praxis der Veränderung (schnell, komplex, reflexiv) hilfreich beteiligen möchten.

Absichtslosigkeit

In letzter Zeit lese und höre ich gerne etwas von Klaus Eidenschink. In seinen Büchern oder frei zugänglichen Aufsätzen (mit dem nostalgischen Zusatz „Fassung zum persönlichen Gebrauch“) oder in seinen Videos gibt er mir regelmäßig etwas zum tiefen Nachdenken und Nachempfinden mit. Das Besondere, was mich reizt wie irritiert, ist seine kontraintuitive Position, z.B.: Dass man Konflikte „gleichermaßen schüren wie beruhigen“ können müsse oder dass es im Coaching nicht darum gehen soll, „das Problem weg zu machen“ oder das im Management in der Regel „nichts entschieden“ wird … die Liste ist lang. Seine von Philosophie, Systemtheorie und Psychologie gestützten Ausführungen führen nicht zu einem „Malen mit Zahlen“. Ganz im Gegenteil: Man sitzt nach der Lektüre unentschieden „auf dem Zaun“, ist aber wachsamer gegenüber den einmaligen Situationen, in der wir uns als Coaches, Managerinnen oder einfach Menschen ständig verstricken. Gegen diese Verstricktheit gibt es nicht das eine Mittel; ‚Absichtlosigkeit‘ ist ein von Eidenschink empfohlener Rat, den man aber in einer Welt voller Absichten erstmal aushalten muss.

Learning AID 2024

Gestern war ich auf der Learning AID 2024, eine Konferenz, die seit drei Jahren am Start ist und sich auf das Thema „KI & Hochschulbildung“ spezialisiert hat. Ich möchte nur zwei Punkte herausgreifen, die mir gefallen haben: Zum einen konnte ich im Vortrag von Herrn Stracke (Uni Bonn) erfahren, dass es ein „Netzwerk ethische Nutzung von KI“ gibt, das u.a. eine leichtgewichtige Handreichung für die Hochschule erarbeitet hat, und dass für das Thema eine spezielle europäische Institution existiert: das „Council of Europe“. Toll! Letzteres wusste ich nicht, und es ist sehr wichtig, weil der AI-Act viel zu allgemein formuliert ist, um „Bildung“ zu schützen. Zum zweiten war die Podiumsdiskussion interessant. Mit Marco Kalz, Gabi Reinmann, Anika Limburg und Inga Gostmann waren Stimmen aus der Professorenschaft, dem Mittelbau und der Studierendenschaft vertreten. Die Diskussion drehte sich um Fragen der KI in der Hochschullehre: von Prompting-Kompetenz über neue Prüfungen bis zu bildungsphilosophischen Forschungsansätzen. Dass die Hochschule vor dem Hintergrund der KI-Entwicklungen „grundlegend neu zu denken ist“, formulierten alle. Orientierung wollen die „Future Skills“ geben, zu der Marco und Gabi einen kritischen Beitrag verfasst haben. Schließlich wurde noch auf zwei Begriffe hingewiesen, die mir besonders gefallen haben: Beziehungsqualität und Vertrauen. Ja, ohne diesen „humanoiden Kern“ wird es in der KI-Zukunft nicht gehen – für alle Institutionen, die formale Bildung betreiben, eine Herausforderung!

Design mit Theorie, nicht ganz ohne

Als ich mit Gabi vor ca. 15 Jahren meinen ersten und bisher einzigen Artikel zum Thema „Design-Based Research“ schrieb, wusste ich nicht, dass mich das Thema noch lange begleiten würde. Zum einen konnte ich Gabi bei ihrem über 20-jährigen „Ringen“ zu DBR über die Schulter schauen; bei uns gibt’s zum Frühstück nicht selten Text- und Ideenfragmente als Geistesnahrung mit Bitte um Feedback 😉. Zum anderen habe ich selbst in den letzten beiden Jahrzehnten im Kontext der Beratung von Organisationen dabei mitmachen dürfen, diese zu verändern, und das läuft darauf hinaus, Neues zu erfinden, dieses Neue in der Praxis zu pilotieren und das, was man lernt, zu etwas Systematischem zu ordnen.

Dass das Letztgenannte etwas mit „Design“ zu tun hat, habe ich erst in tieferer Auseinandersetzung mit dem neuen Buch „Forschendes Entwerfen“ (Freier Download, cc) von Gabi Reinmann, Dominikus Herzberg und Alexa Brase verstanden. Warum?

Normalerweise denken wir uns Veränderungsprozesse in Organisationen als Phasen: Analyse, Ideen- und Prototypenentwicklung (Design), Umsetzung, Evaluation, Re-Design. Viele DBR-Modelle haben diese Grundfigur der Phasen übernommen und man erkennt schnell, dass „Design“ typischerweise nur an zwei Stellen explizit wird, nämlich beim „Konzept“ und bei der „Weiterentwicklung des Konzepts“. Design bleibt damit im Veränderungsprozess etwas Selektives und am Ende etwas für Schön- oder Schöpfergeister.

Die Autoren von „Forschendes Entwerfen“ gehen mit Inspiration des Schweizer Designforschers und Architekten Simon Kretz einen anderen Weg: Bei ihnen ist das „Entwerfen“ (= Designhandlung) theoretisch wie praktisch an alle (!) Phasen des Veränderungs- und Erkenntnisprozesses gebunden, das heißt: Man entwirft und erkennt, wenn man neue Ideen erfindet (immer in Rückgriff auf und im Abgleich mit Theorien, Normen und Standards, die es schon gibt), man entwirft und erkennt, wenn man das Konzept in der Praxis projektiert (und dabei merkt, wie widerständig die Praxis gegenüber der Idee ist), man entwirft und erkennt, wenn man die Passungen und Nichtpassung von Idee und Projektierung systematisch ordnet (und sieht, wo Invarianten oder lokale Prinzipien stecken). Der theoretische wie praktische „Clou“ liegt in der Gleichzeitigkeit von erfindenden, projektierenden und ordnenden Handlungen, wobei Gleichzeitigkeit eher ein Oszillieren des Bewusstseins meint, ein „in der Luft halten und Bezugnehmen“ sehr unterschiedlicher Gegenstände und Prozesse. Es kann also sein, dass ich gerade ein Konzept erfinde (Phasenbezug), aber „ich tue das in einer Weise“, dass ich durch Gedankensimulation die Idee praktisch projektiere und durch Antizipation der Ergebnisse Ordnung schaffe, die mich zu ersten, wenn auch vagen, Erkenntnissen führen. Es geht also nicht mehr um einen „Dreischritt“, sondern um einen „Dreiklang“, ein gleichzeitiges Jonglieren und Variieren mit den drei Entwurfs- oder Designhandlungen. Mit dieser Metapher lässt sich der innovative Kern fassen.

Die Abbildung 4 aus dem Buch (S. 35) zeigt diesen „Shift“ vom Dreischritt zum Dreiklang; eine unscheinbare Grafik, die es aber in sich hat, weil damit der Übergang von einer „objektivistischen“ Phasenstruktur hin zu einer handlungstheoretischen Ordnung getan ist, was – wenn man so will – methodologische, epistemische, ontologische und anthropologische Konsequenzen hat.

Die Leistung des Buches liegt nicht in der Herausarbeitung dieser Hintergrund-Dimensionen, sondern darin, DBR erstmals konsequent von der Designtheorie her zu denken sowie in der Beantwortung der Frage, wie man im Kontext der Hochschule eine designbasierte Bildungsforschung methodisch praktisch betreibt. Der Gewinn liegt also genau in dieser „Brücke“ zwischen eleganter Theorie und hilfreichen Methoden, einschließlich der Standards, die diese Brückenbegehung sichern sollen.

Selbstbeobachtungen

Bücher muss man lesen, wenn die Zeit gekommen ist.

Eines der Bücher, für die „meine Zeit“ gekommen ist, ist das von Klaus Eidenschink und Ulrich Merkens „Entscheidung ohne Grund“. Das schmale, etwa 100 Seiten umfassende Bändchen soll helfen, „Organisationen zu verstehen und zu beraten“.

Wer sich dranmacht, dass Buch zu lesen, muss Abschied nehmen von „richtig-falsch Entscheidungen“ und „feststellbarer Objektivität“, also dem klassischen Credo der Naturwissenschaft. Stattdessen treten komplexere Fragen auf den Plan: „Welche Entscheidung über ein Problem ist für wen zu einem gewählten Zeitpunkt mit welchen Nebenfolgen und mit welchen Zielsetzungen auf welche Weise kommuniziert passend und unpassend?

Um solche Typen von Fragen systematisch anzugehen, schlagen die Autoren neun Leitunterscheidungen vor, die sie in ihren Modell nach einer Sach-, Sozial- und Zeitdimension ordnen (vgl. Metatheorie der Veränderung). Ein Beispiel: „Organisationen müssen sich entscheiden, ob sie eine Regel anwenden oder situativ entscheiden. Dienst nach Vorschrift bringt alles zum Erliegen. Alles nur situativ zu regeln, erzeugt zu wenig Koordination und Verlässlichkeit“ (S.21). Im Beispiel haben wir also eine Leitunterscheidung in der Zeitdimension „Gegenwartbehandlung“ mit den Polen „regelgerecht und situationsgerecht“.

Entscheidend für das Verständnis des Modells sind die „Pole“. Sie bilden keine binären Gegensätze (wie richtig-falsch), sondern beschreiben sich ergänzende Orientierungen, die man in der Praxis beide im Blick haben muss, obwohl sie sich (logisch) widersprechen. Damit das nicht beim dummen Esel endet, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, gilt es vor allem, dynamisch zu fragen, wann und für wen der jeweilige Pol bedeutsam ist bzw. sein sollte.

Nun gibt es aber nicht nur eine Leitunterscheidung, sondern neun! Und keiner dieser Leitunterscheidung ist unabhängig von den anderen. „Das Geflecht und die damit verbundenen wechselseitigen Einflussnahmen, Begrenzungen und Kombinationen sind nicht zu überblicken, nicht zu kalkulieren und nicht zu planen.“ (S.95). Die Autoren sprechen deshalb im Titel ihres Buches von ‚Entscheidung ohne Grund‘. „Da Entscheidungen immer auf gleichwertigen Alternativen beruhen, gibt es für die Wahl keine rationale Begründung, sondern nur Begründungen, die die Willkür in jeder Entscheidung unsichtbar macht oder mildert.“ (S. 95). Na, wunderbar 😊. Hat man das aber verstanden, dann ist es entlastend, denn was realistischerweise übrig bleibt, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger (!) als ein „Raten auf hohem Niveau“ über eine prinzipiell unbekannte Zukunft. 

Mich hat das Buch neben dem andersartigen Denkstil (Modell) auch noch in einem speziellen Aspekt angesprochen; es geht um „Kompetenz für Gefühle“. Die Autoren lenken den Blick in die Organisation: „Was alles wird vermieden aus Angst, wird erstrebt aus Gier und Eifersucht, wird unterbunden aus Schuld, wird untersagt aus Furcht, wird verfolgt aus Zorn und Wut, wird erduldet aus Liebe, wird verleugnet aus Scham, wird geglaubt aus Unsicherheit, wird ertragen aus Stolz, wird abgelehnt aus Unterlegenheit, wird fokussiert aus Eitelkeit, wird bekämpft aus Minderwertigkeit, wird verzögert aus Vorsicht, wird abgelehnt aus Kränkung, wird angestrebt aus Begeisterung, wird gut gemacht aus Freude, wird übertrieben aus Leidenschaft, wird genossen aus Lust usf.“ (S.104). Nach dieser Salve denkt man: genauso ist es!

Warum ist das aber wichtig, diese Gefühlskompetenz? Zum ersten „koppeln Gefühle Menschen wahrnehmungsseitig mit der Welt“ (S. 104) und zweitens sind alle Entscheidungen mit Gefühlen gekoppelt. Es wird das gesehen (relevante Umwelt), was gefühlt wird. Man braucht also Zugang zu seinen eigenen Gefühlen, um die Schwingungen bei Mitarbeiterinnen oder Kunden überhaupt erstmal wahrzunehmen – jetzt aber nicht, um mitfühlend oder gefühlig zu sein, sondern um Gefühle genauer zu UNTERSCHEIDEN (ist gibt sehr viele und manchmal täuschend ähnlich „klingende“, wie die Liste im letzten Abschnitt andeutet) und von da aus zu günstigen Interventionen zu kommen. Gefühle werden von den Autoren als „Antworten auf unbewusste Motive“ gedeutet. In diesem Sinne sind sie wichtige „Indikatoren von Mustern“, die man mit einbeziehen sollte … oder knapp und bündig: (Unangenehme) Gefühle sind „Ressonanzoasen“, sie weisen uns den Weg durch große Hitze, belohnen uns aber am Ende (wenn’s keine Fata Morgana ist) mit kühlendem Wasser.

Ich habe anfangs gesagt, dass für dieses Buch meine Zeit gekommen ist. Das klingt dramatischer, als es ist, aber es stimmt. Nach meinem Ausstieg aus dem eigenen Unternehmen (siehe Beitrag), lerne ich sehr, sehr langsam, den Fluss von außen zu beobachten, mich selbst außerhalb des Flusses zu sehen … und wahrzunehmen! Beim Lesen des Buches hatte ich an x Stellen ein Aha-Erlebnis; zu fast jedem Pol, der genannt wurde, werden Personen lebendig, zu allen Leitunterscheidungen gibt es mindestens eine bilderreiche Geschichte und zu der Erkenntnis „Entscheidungen ohne Grund“ gabs bisher nur eine vernebelte Ahnung. Insofern hat das Buch den Realitätstest bestanden 😊, ich verstehe jetzt besser (mich, Team, Organisation, Kunden); und meine „Dschungel-Metapher“ mit der finalen Bewertung „schön“, war nicht ganz falsch, wenn man unter „Schönheit“ schlicht „lebendig“ versteht, mit Gefühlen aus dem ganzen Erfahrungsspektrum … und dafür bin ich dankbar.  

Der allerunwahrscheinlichste Fall

Zu Ostern haben wir eine „große“ Wanderung gemacht: Einmal Blankenese-Wedel hin und zurück, also über den Daumen 20 km, am schönen Elbstrand entlang. Mit dabei mein jugendlicher Brustbeutel, mit Kreditkarten, Personalausweis und Führerschein, wie sich das gehört oder auch eben nicht. Weil das Wetter sich nicht entscheiden konnte, mal frühlingsheiß, mal winterkalt, wechselte ich fortlaufend Pulli und Jacke und damit auch mein Brustbeutelchen. 

Es kam, wie es kommen musste. Auf dem Rückweg vom Eismann in Wedel waren sie weg, meine Kreditkarten, vor allem der Personalausweis, der mir am Folgetag Einzug nach Italien erlauben sollte. Wir gingen also den gesamten Weg mehrfach ab, fragten zweimal beim Eismann nach, versuchten gemeinsame Spekulationen um das Wo, Wie und Wann des Verlusts … alles nutzte nix. Nach gefühlt 40 km Fußmarsch melde ich den Verlust bei der Polizei Wedel, die den Fall freundlich, aber mit Aussicht auf wenig Erfolg, protokollierte.

Auf dem Rückweg sagte Gabi: „Vielleicht gibt es doch noch gute Menschen, die den Fund zu uns nach Hause bringen. Ist unwahrscheinlich, aber wenn wir nach Hause kommen, hängt vielleicht die Brusttasche an der Tür, logisch auszuschließen ist das nicht!“ So oder so ähnlich hat sie es gesagt, was ich mit einem „Du glaubst auch an den Weihnachtsmann“ lächerlich machte.

Als wir am späten Nachmittag erschöpft und mutlos zurückkamen und um die Ecke zu unserer Haustür bogen, kam uns ein lachendes Gesicht entgegen: „Ist das Ihre Tasche? Ich war mit meiner Freundin in der Gegend und da dachten wir, dass wir die Tasche auch vorbeibringen können.“ Filmreif, wirklich groooooße Freude.

Tja, was soll ich sagen. Wahrscheinlichkeit ist was für Ungläubige.

Till Reiners, was ich dir noch sagen wollte…

Am Freitag war ich mit meinem Sohn bei Till Reiners: 800 Fans im Stadttheater Neumünster, Programm-Motto „Mein Italien“ und ein gut gelaunter Till. Der Inhalt in Kürze …

Nach einer spaßigen Einstiegssalve, „Italien, Sprachkurs, Finanzamt“ bot das Motto natürlich auch Tiefgang: Till erzählt von „Chris“. Gemeint ist (der FDP-Politiker) Christian Lindner, sein „neuer Freund“. Er trifft ihn auf einen Kaffee-Schnack in Berlin, begrüßt ihn auf seiner Geburtstagfeier, trägt seine geschenkten Slim-Anzüge, schlürft gemeinsam feinperligen Champagner und bewundert seinen Porsche – alles überraschend politikfrei. Man denkt: „Jetzt hakt’s“. Diese Freundschaft endet in Mailand. Auf einer luftigen Anhöhe, in einem Hotel mit Mondpreisen, sprechen sie dann doch einmal über Politik. „Kinderarmut hat nichts mit Geld zu tun!?“ Beim Ruf- und Fragezeichen scheiden sich die Geister. Till zu Chris: „Ich mag dich nicht“. Chris zu Till: „Du kannst das Hotel jederzeit verlassen“. Till zu Chris: „Ich will, das du gehst … das ist mein Italien!“ Mit dem Schlusssatz wird klar: Hier geht es um Politik, um Verteilungskampf, um Legitimation. „Mein Italien“ steht für das gute und gerechte Leben, geradem Rücken, für unseren Till, wir haben ihn wieder.

Mir hat der Abend sehr gefallen. Das Programm kommt so launig daher. Comedy statt Kabarett, oder? Nee, Till halt, speziell, politisches Comedy, man lacht und denkt „oh ha“.

Zu guter Letzt: Im Anschluss an das Programm konnte man sich von Till ein Poster signieren lassen. Ich war der letzte in der Reihe, also keiner hinter mir. Ich trat also auf Till zu, nette Augen, etwas angeschwollen, von der vielen Arbeit. Ich hätte sagen können: „Till, was für eine großartige Show, was für ein intelligentes Programm, Mensch, gut, dass es dich gibt!“ Und ich? Ich sage nichts, keinen Pieps. Nur, dass ich das Poster haben möchte, mit einer Aufschrift „Für die Ghostthinker“, was er dann auch ohne Murren macht.

Dann eben jetzt: „Till, Du bist ein ‚Leistungsträger‘, klar, nicht im Sinne von Herrn Christian Lindner, sondern im Sinne von Herrn Böckenförde, der sagte: „Der freiheitlich-säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ An diesen Voraussetzungen – an der moralischen Substanz des Einzelnen und am demokratischen Ethos – arbeitets du mit deinen Mitteln.

Klasse!

Wissens über‘n Gartenzaun werfen

Am 31.08.2023 fand in Essen das EdTech-Forum der Universität Duisburg statt. Ich dachte erst: „EdTech“, da sind alle Bildungsunternehmen Deutschlands am Start, aber weit gefehlt. EdTech steht für „Education & Technology“, was man gut mit „Bildungstechnologien“ übersetzen kann. Professor Michael Kerres – Lehrstuhlinhaber für Mediendidaktik und Wissensmanagement – hatte zusammen mit seinem Team nach Essen eingeladen, um im Rahmen des „Meta-Vorhabens des BMBF“ die Möglichkeiten und Grenzen einer gestaltungs- bzw. designorientierten Didaktik im Kontext primär technologiebasierten Lernens zu diskutieren.

Den Keynote hatte Gabi (Reinmann) von der Universität Hamburg, die mit „Research through Design“ den Tag eröffnete und mit ihren neuen Design-Modell ein Denk- und Sprachangebot lieferte, um den notorisch unterbelichteten „Methodologie-Fleck“ in der gestaltungsorientierten (Hochschul-)Didaktik aufzuhellen. Das Neue (gegenüber bisherigen Modellen) mündet für sie in drei generischen Entwurfshandlungen, nämlich verändernde, untersuchende und ordnende Tätigkeiten, mit der mögliche, wirkliche und verstandene Wirklichkeiten bearbeitet werden. „Gleichzeitigkeit“ und „Oszillation“ sind neue Vokabeln, die „Linearität“ und „Phase“ ablösen. Worum es Gabi auch ging: um einen paradigmatischen Vorschlag, bei dem „Design“ zum leitenden Moment des Erkennens wird, was Folgen für die wissenschaftlichen Standards und die Rolle der Empirie mit sich bringt (vgl. Reinmann, 2023). Das muss man sacken lassen.

Mit Susanne Prediger von der TU Dortmund war eine Forscherin live anwesend, die ich immer schon mal hören wollte: Sie verbindet Gestaltungsorientierung in der Mathematikdidaktik mit dem Designgegenstand „Video“. In ihrem Workshop wurde klar, dass Erklärvideos großes Potenzial haben, dass man Matheaufgaben erfolgreich bewältigt, aber weniger dafür geeignet sind, Mathe zu verstehen. Ha, da gibt es also einen Unterschied 😊. Interaktive Videos mit Fragen, Hinweisen etc. sollen dieses Defizit umgehen. Ihr Video-Beispiel zum selbst Ausprobieren war nachvollziehbar und es wurde auch schnell einsichtig, warum man hier X Entwürfe und Iterationen braucht, damit man den „Kern von Missverstehen“ (in der Mathematik) gefunden hat und eben der „Illusion von Verstehen“ nicht mehr erliegt.

Schließlich war ich noch im Workshop von Peter Brandt vom Deutschen Institut für Erwachsenbildung, der mit Kollegen (Zeitschrift weiter:bilden) ein Innovations-Netzwerk vorstellte, in dem sich Akteure aus Wissenschaft, Praxis und Politik austauschen können und sollen. Hier fiel unter anderem der Satz, dass Wissenstransfer mehr ist als „Wissen über den Gartenzaun“ zu werfen …, sondern? Im Konzept der Perspektivenverschränkung, also einem „aktiven Verarbeiten“ von Wissensangeboten unterschiedlicher Herkunft war die Lösung angedeutet. Klar ist, dass in dieser Unterstützung von Ko-Konstruktion das Wohl und Wehe gelungenen Austauschs liegt. Wie das genau im Netzwerk funktioniert, blieb noch offen, aber mich interessiert dieser Punkt brennend, weil Verstehen und Verständigung zentrale Themen sind, auf die fast alles in dieser verrückten Welt hinausläuft.

Allein diesen drei Impulsen war anzumerken, dass eine gestaltungsorientierte Didaktik dann zielführend ist, wenn sich Akteure aus Wissenschaft und Praxis auf „echte Komplexität“, d.h. Bildungswirklichkeit einlassen (müssen), um gemeinsam Probleme zu sichten und gemeinsam Probleme zu lösen. Dass das nicht mit „Durchwurschteln“ verwechselt werden darf, sondern mit methodischer und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit zu tun ist, war Thema und Anspruch des Tages.