„Leben ist Töten“ … Nahaufnahme eines Redners

Eher durch Zufall war ich Anfang April auf der Internationalen Tagung der Erich Fromm Gesellschaft, die in Bad Marienberg den 125. Geburtstag des Namensgebers feierte. „Fromm“, die Älteren erinnern sich: Die „Kunst des Liebens“ sowie „Haben oder Sein“ waren Büchlein, die man in der Jugend pflichtgemäß las oder verschlang, je nach Einstellung.

Anlass und Grund dieser Reise war kein aufflammendes Fromm-Interesse, obwohl die Zeiten danach schreien, sondern ein Vortrag von Klaus Eidenschink, der dort als Redner aufgeführt war. Für alle die es nicht wissen: Eidenschink ist ein „Wanderer zwischen den Welten“, Coach und Coach-Ausbilder mit eigenem Institut in München, von Haus aus Theologe, seit Jahrzehnten aber in Systemtheorie und Psychologie (und weiteren Hilfswissenschaften) zuhause. Von ihm stammen Bücher wie „Die Kunst des Konflikts“ oder „Entscheidung ohne Grund“ oder das „Verunsicherungsbuch“, die alle mit Gewinn lesen können, die mit Menschen zusammenarbeiten und dafür Verantwortung tragen. Ich denke man kann ihn als Meta-Theoretiker des Coachings (er hat eine eigenen Metatheorie zusammengestellt) oder intellektuellen Provokateur bezeichnen, der gern mal den psychologischen Mainstream gegen den Strich liest, … und schaut was passiert.  

Nun also Eidenschink – erstmals live vor meinen Augen – morgens 09.00, erstes Referat, Titel „Die Anatomie konfliktdynamischer Destruktivität“. Im ersten Teil ging er auf das Thema Konflikt ein: Was ist das? Wie entsteht er? Aber auch eher beiläufig, … „warum ich nicht vom Frieden rede.“ Man merkte schnell, Systemtheorie, Luhmann, gar nicht mal im komplizierten Sprechen, sondern im klaren Denken, neutral beschreibend, kein Evangelium, sondern zweiwertigen Pole, um zu sehen, was der Fall ist, ehe man interveniert. Weil die ZuhörerInnen für gewöhnlich in ihren Denkbahnen verharren – kopfnickend, zustimmend – zwischendurch kleine Bomben wie: „Leben ist Töten“ oder „Konfliktfreie Kommunikation, da halte ich nix von“. Solche Sätze „sitzen“, wir sind auf der Erich Fromm-Tagung, das Publikum seit Jahrzehnten geschult in allen Friedenstechniken und Konfliktvermeidungshaltungen 😊. Bricht der Widerstand offen zutage, ist Eidenschink hellwach und schnell dabei, die Stelle zu kitten, nicht durch eine Beschwichtigung, sondern z.B. mit dem Hinweis, dass jede Entscheidung eben AUCH Möglichkeiten ausschließt oder im Bild: Wenn der Zen-Meister durch den Tempel geht, tötet er Milben. Jedwedes Handeln hat Folgen und Nebenfolgen und damit auch das – gerade das –, was mit guter, friedlicher Absicht geschieht. 

Was mir bei Eidenschink gefallen und warum sich die Anwesenheit gelohnt hat: Dieses eigentümliche Sprechen mit einer inneren Leinwand, die Augen nach oben gerichtet, entrückt, aber bei sich, mit beiden Händen nach etwas greifend und jonglierend. Eine Sprechsequenz geht in etwa so: (1) Luhmannischer Einstieg, für den Ungeübten immer etwas befremdlich, z.B. „doppelte Kontingenz“, schwer zugänglich, bestenfalls hat man eine Ahnung. (2) Dann das Entgegenkommen mit einer bekannten Redewendung, bei ihm im bayerischen Grundton, in der das Gemeinte intuitiv anschaulich wird. (3) Jetzt ganz beim Publikum, ergänzend und mit Humor vorgetragen noch eine Art schauspielerischer Szene, z.B. „Frau kläfft, weil Mann ins Wirtshaus geht“, an der dann wieder etwas Abstraktes wie „zirkuläre Kausalität“ erklärt wird, … das Lachen im Publikum geht dann fließend in ein Nachdenken über: Abstraktum, Redewendung, Spielszene vermischen sich zu einer sinnigen und sinnlichen Figur. Ende der Sequenz, Ende der Beobachtung.  

Qualitätsgetrieben

Am Freitag habe ich wieder einmal einen Vortragsimpuls beim Referent*innen-Team des Deutschen Fußball-Bundes (#DFB) am schönen Campus in Frankfurt gegeben. Es ging darum, wie man Phasen von Lehrprojekten (z. B. Planung, Durchführung, Reflexion eines Lehrgangs) begleitet und wie man das mit wissenschaftlicher Brille begründen kann. Entsprechend spielten #Situierung und #Didaktik eine große Rolle (so wie es im Übrigen auch in der Schweizer Berufsbildung #EHB geschieht). In der anschließenden Diskussion in der Runde der Ausbilder*innen wurde deutlich, dass Qualitäts- und Ressourcenfragen immer unter Spannung stehen. Man muss hier also offen darüber sprechen, was unter ehrenamtlichen (!) Bedingungen möglich, wünschenswert und machbar ist.

Dennoch: Es ist für mich immer wieder erstaunlich, was das DFB-Referent*innen-Team da „an Qualität“ auf den Weg bringt: ein aus Kompetenzsicht anspruchsvolles und fußballspezifisches Konzept (#DOSB-Kompetenzmodell, DFB 4-Klang), ein Blended-Learning-Format, in dem synchrone und asynchrone Aktivitäten via DFB-Online-Campus (edubreak) gut zusammenspielen, mit selbstgesteuerten Phasen und kriterienbasiertem Feedback von Coaches, bei dem Social Video Learning selbstredend nicht fehlen darf.

Ich sage mal so: Kein anderer (mir bekannter) Verband ist so „qualitätsgetrieben“, zumindest in der Ausbildung von Ausbilder*innen. Ich war erstmals unter meiner neuen Flagge „DIDAKTIKBÜRO Hamburg“ dort, aber ich habe das Gefühl, dass es den Menschen wurscht ist, wie ich mich beflagge. Sie sagen: „Frank, wir sind froh, dass du da bist.“ Damit kann man mit leben, oder?

20 Jahre Ghostthinker :-)

Anfang März 2005 habe ich die Ghostthinker GmbH gegründet (genau am 02.03.2005 war die Eintragung im Handelsregister beim Münchener Amt) – jetzt ist Ghostthinker 20 Jahre alt geworden. Daran faszinieren mich, als immer noch Gesellschafter, mehrere Dinge: Zum ersten bewahrheitet sich, wie rasend die Zeit vergeht – 20 Jahre, fast ein Vierteljahrhundert! Zum zweiten zeigt sich, dass „Unternehmertum in Deutschland“ möglich ist, auch in steilen Bereichen wie Education & Technology. Und drittens beglückt mich, dass sich in der Sportbildung (Trainerinnen und Trainer u.a.) ein anspruchsvoller und begründungsbedürftiger Kompetenzansatz (mit Social Video Learning als Kern) behaupten konnte, entgegen vielen Widrigkeiten (leichter, billiger, schneller geht’s scheinbar immer). 2025 haben 60.000 SchiedsrichterInnen des Deutschen Fußball Bundes (vgl. Schiri-Zeitung) „Ja“ zu edubreak gesagt, denn edubreak ist nicht eine nackte Technologie, sondern eine technologiebasierte Didaktik mit eingebetteter Beteiligungskultur: Beteiligung ist intensiv, soziale Beziehungen brauchen Zeit, mentale Anstrengungen bedeuten Schweiß, aber man bekommt auch viel und für den TrainerInnen-Job Wesentliches zurück. Wichtig ist, was langfristig unterm Strich herauskommt, der Social Impact. Wer heute so denkt, wird entweder schief angeschaut oder gefeiert. Heute kann gefeiert werden. 

Ich bin kein Repräsentant

Ich habe eine Reise nach Berlin hinter mir. Anlass war eine „Erkundungsaufstellung“ zu „Inner Work“, die von Prof. Georg Müller-Christ und Dr. Josef Merk angeboten wurde. Ich kenne Georg (nach einem gemeinsamen F&E-Projekt) und seine Aufstellungsarbeit nur aus der Ferne, also via seiner LinkedIn-Beiträge und aus einer Online-Session, in dem ich das Grundprinzip nachvollziehen konnte. Ich selbst bin also erfahrungsfrei; das sagt man, wenn man von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, aber genau in dieser Unbeschriebenheit eine Ressource für den Tag sieht.

In einem großartigen (aber unangestrengt lässigen) Loft am Berliner Ostbahnhof ging es mit ca. 20 Personen – wir waren 3 Männer – in den Tag, der durch wenige Slots grob gegliedert war. Gestartet wurde mit einem „Check-in“, bei dem jeder/jede – nach einem kurzen Austausch mit dem Sitznachbarn – die eigene Erwartung sagen konnte. Ich war kurz: Ich wollte eine Erfahrung machen, die mich aus der Bahn wirft, also Bahnbrechendes 😉.

Ich überspringe jetzt mal die einleitenden Impulse durch Josef und Georg und komme gleich zur ersten Erkundungsaufstellung, und die ging so: Vier Personen, die sich freiwillig meldeten, verließen den Raum, so dass sie nichts hören und sehen konnten. Währenddessen erklärte uns Georg inmitten einer großen Stuhlkreisfläche, dass es vier Rollen gibt (Angestellter weiblich, Angestellter männlich, Führungskraft weiblich, Führungskraft männlich), die mit den Buchstaben A-D symbolisiert und wiederum durch ein Schild visualisiert werden. Zudem war im Stuhlkreis ein Stuhl mit der Zahl „1“ und räumlich gegenüber einem Stuhl mit der Zahl „2“ eingeschoben; die Zahlen symbolisierten die leitenden Zwecke bzw. Handlungsmotivationen im Unternehmen, nämlich Fremdbestimmung und Selbstbestimmung. Schließlich wurden, ebenfalls symbolisch, vier Kontexte unterschieden, in denen die Akteure durch verschiedene „Reifegrade“ an Inner Work einen Unterschied machen sollten. Nun wurden die vier Personen von draußen in den Stuhlkreis geholt. Jeder der Vier konnte sich einen Buchstaben schnappen und gut sichtbar an den Oberkörper hängen. Vor mir im Stuhlkreis waren also vier Personen mit Buchstaben zu sehen und links und rechts stand je ein Stuhl mit der Zahl 1 und 2. Soweit zur Struktur.

Die Erkundungsleitung (EL) forderte die „Repräsentanten“ (R) auf (das waren die Personen mit den Buchstaben, weil sie verdeckt Rollen repräsentierten), sich im Raum zu positionieren, so dass es für sie „passend“ sei. Die „R“ positionierten sich. Die EL stellte daraufhin Fragen, die „R“ Aussagen zur Positionierung ablocken sollten. Dieser Prozess wurde mit Kontext zwei und Kontext drei wiederholt, was u.a. zu veränderten Positionierungen im Raum und Äußerungen der R führte. Bevor Kontext vier erkundet wurde, sollten alle R die Kreisfläche verlassen und dann mit „kollektiven Inner Work-Bewusstsein“ (was das genau war, blieb offen, aber wohl eine Art von gemeinsam gelebter Inner-Work-Praxis) erneut eine Position im Raum suchen und eine Aussage dazu machen.

Was wir da sehen konnten, war ein komplexes, zumindest aber vielschichtiges Zusammenspiel aus R (mit verdeckten Rollen), mit Stühlen als Bezugspunkten (verdeckte Handlungsmotivationen) und je verschiedenen Kontexten (offene, d.h. bekannte Bewusstseinsgrade zu Inner Work) – es war eine „Simulation im Raum“, was vor allem Gleichzeitigkeit und Situierung, aber eben auch „Sichtbarmachung von Verdecktem und Verborgenen“ bedeutet. 

Um sich das, was sich da „gezeigt hat“ (nicht gezeigt wurde!), zu deuten, gab es im Anschluss Kleingruppenarbeit, bei der man zunächst das Gesehene neutral beschreiben sollte: z.B., „dass die beiden Führungskräfte auffällig oft in der Nähe der Stühle gestanden oder gesessen sind oder dass der männliche Angestellte auffällig oft in der Zwischenposition von Stuhl 1 und 2 war.“ In einem zweiten Schritt sollte man diese Deutungen erweitern, indem man Sätze mit „könnte“ (Konjunktiv) formulierte, die darauf abstellten, „mögliche Optionen zu erkunden“. Da war also der Kern, worum es ging oder besser, was ich verstanden habe: Nicht sichtbare oder übersehene oder für unwahrscheinlich gehaltene oder gar emotional abstoßende Optionen von Rollen-Motivation-Kontext-Mustern entspannt in den Blick zu nehmen, als eine neue Möglichkeit von Wirklichkeit.

Ich will in diesem Beitrag jetzt nicht um den Nachmittag ergänzen, bei dem ich selbst „Repräsentant“ war, zwar in einer ganz anderen Übung, aber immerhin. Es wird sonst hier zu lang. Vielmehr komme ich jetzt zu dem, was ich aus dem Tag mitgenommen habe.

In der großen „Abschlussrunde“ – heute Check-out – war man sich einig: Fast alle fühlten sich reich beschenkt, mit Impulsen für die eigenen Arbeit, mit mehr Motivation und Klarheit, und verabschiedeten sich mit Dank an alle Anwesenden für Offenheit und Gespräche. Ich sagte „fast alle“. Ich war der Einzige, der andere Erfahrungen gemacht hatte, nichts Bahnbrechendes, wie anfangs erwartet, aber von so einem hohen Ross kann man auch nur runterfallen. Um es vorwegzunehmen: Der Tag war professionell organisiert, die Impulse originell und informiert, die Gespräche aufschlussreich. Es hat sich also gelohnt, zumal die Tagungskosten von unter 200 € eher im Bereich des Ehrenamtes liegen. Zu dieser Bilanz gehört aber auch, dass ich jetzt mehr Klarheit darüber habe, was ich nicht will: Inner Work mit Erkundungsaufstellung. Der Hauptgrund der Nichtpassung für mich ist, dass der Körperleib zu wenig zur Sprache kommt, seine Sprache, eine spezifische Wahrnehmung, die wir im Nachgang denkend erfassen können, wenn es gut läuft, wenn nicht, ist es auch gut, vielleicht sogar besser. Ich erkenne zwar das heuristische Potenzial der körperinduzierten Symbol- und Unterscheidungsarbeit via Repräsentanz und Metakognition zur Erweiterung des Möglichkeitsraums, denn das ist, was ich unter Erkundungsaufstellung verstehe, aber für meinen Kopf ist das zu viel Symbol, Stellvertretung und externer Verweis, zu viel Denken über Denken. Wahrscheinlich suche ich nicht nach einem Mehr an Erkenntnis, sondern nach anderen Formen der Resonanz, nicht nach wahrem oder nützlichem Wissen, sondern Formen des Gewahrwerdens, die mir (und anderen) neue Denkmöglichkeiten, Selbstzugänge und Handlungsweisen zeigen und erlebbar macht.

Prä-emphatische Zusammenarbeit: Zustimmung und drei Thesen

In meinem letztens Blogbeitrag hatte ich die „Prä-empathische Zusammenarbeit“ von Jöran Muuß-Mehrholz etwas einsilbig aufgegriffen, was dem Züricher Gesamteindrücken geschuldet war. Nun also nochmal etwas ausführlicher.

In einem aktuellen Blogbeitrag beleuchtet Jöran unterschiedliche Aspekte der „Zusammenarbeit“. Dabei geht es ihm darum, nach den großen Superlativen (McKinsey sagt’s) und kleinen Anleitungen (Hacks & Tipps) ein „Mittelfeld mit Substanz“ zu bestimmen, was aus einer sozialen Perspektive viel mit Vereinheitlichung, Absprachen und Standards zu tun hat und technisch mit Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität bestimmt werden kann. Oder einfacher: Weil die Daten in der Cloud liegen und von allen jederzeit von überall eingesehen und verändert werden können, darum braucht es eine gemeinsame Strategie, damit Zusammenarbeit gelingt. Er nennt das das „Handwerk des Teilens“, was vom Sound – gewollt oder ungewollt –nah an Peter Bieris „Handwerk der Freiheit“ liegt, also an einer reflexiven Handlungspraxis, die den Kopf im Himmel der Ideale und die Füße auf der Erde des Notwendigen hat. Wo soll also dieses Handwerk herkommen?

Eines ist sicher, ein Handwerk fällt nicht vom Himmel, es wird vielmehr gemacht. So wie Schule heute organisiert ist, lernen SchülerInnen nicht das Handwerk des Teilens, sondern das Handwerk der „Alleinarbeiten“ (Jöran): Allein arbeite man dann, wenn man Kontrolle behalten will, Kontrolle über Lernziele- und -inhalte, über methodische Formen der Prozess- und Prüfungsgestaltung sowie Kontrolle über die Illusion, was am Ende gelernt wurde, so könnte man sagen.

Was wäre also zu tun, um solche Kontrollüberzeugungen zu ändern? Man kann innovative Projekte an Schulen starten (Trojanisches Pferd, Katalysator), man kann die Fortbildung von LehrerInnen z.B. mit neuen Methoden und dem Begründungswissen von Jöran anreichern. Aber reicht das? Jöran betont in einem eigenen Blogbeitrag, dass „Schule unglaublich stabil ist“, viele Dinge sich also nicht oder unzureichend ändern; es hat den Anschein, als wolle sich „das System“ nicht in Richtung eines neuen Zustands hin verändern.

Ich habe drei Thesen, die man diskutieren könnte.

Zum ersten bin ich der festen Überzeugung, dass man Systeme, wie die Schule, nur dann ändern kann, wenn man AUCH den Ort berücksichtigt, wo sich das System selbst reproduziert, und das ist zumindest zum Teil die Referendariatsausbildung. Dort, in der zweiten Ausbildungsphase, werden angehende LehrerInnen auf Ihre Arbeitspraxis hin „geprägt“, nachhaltig geprägt, was manchmal nah an einer lebenslangen Schädigung liegt. Hier gilt es also, die AusbilderInnen (und die Leitungen) davon zu überzeugen, dass digitale Zusammenarbeit keine modische Methodenübung ist, sondern eine auch lustvolle Abgabe von Kontrolle zugunsten eines didaktischen Mehrwertes sein kann, der gerade durch den Kontrollverlust entsteht. Und das darf man nicht blutleer erklären oder gar „vermitteln“, sondern das muss in experimenteller Praxis erprobt, erfahren und langfristig eingeübt werden, denn: Man muss das Driften lernen, um eine neue und höherwertige Form der Kontrolle zu etablieren. Was mich zum zweiten Punkt bringt.

Ich glaube zum zweiten, dass das Mantra des Paradigmenwechsels (die großen Shifts), hier „gute“ Zusammenarbeit und dort „schlechte“ Alleinarbeit, Teil des Problems ist. Zwar ist es richtig, dass wir gerade für eine digitale Arbeitswelt fast völlig blank an methodischer Kompetenz sind, wie wir Zusammenarbeit organisieren, wir brauchen das also (Zusammenarbeit 4.0)! Aber: Wir sind auch völlig unzureichend vorbereitet auf intensive Formen der Alleinarbeit, die man ganz zweifellos in einer digitalen Arbeitswelt AUCH braucht; allein das akademische Studium besteht zu ca. 50% aus Alleinarbeit (dem Selbststudium, angeleitet und frei) und auch in der Arbeitswelt kann und sollte nicht alles in Form von Kooperation und Kollaboration stattfinden. Denn auch hier ist die tiefe Einzelarbeit sinnvoll, von Fall zu Fall, von Phase zu Phase, von Problem zu Problem. Wichtig ist also die „Wechselkompetenz“, wann welche Form der Arbeit funktional ist, das müssen wir lernen. Was mich zu einer dritten These führt.

Alle Formen der Arbeit und des Lernens sind gebunden an etwas sehr Schnödem (was man heute nicht mehr gerne hört): Disziplin! Ich kenne genügend Vorhaben oder Versprechen, in denen beim Start alle Feuer und Flamme sind, zusammenzuarbeiten, klar, was sonst?! Doch dann wartet man wieder Tage auf Rückmeldung oder die abgesprochenen Beiträge kommen erst weit nach der Deadline. Deadline, da stirbt im Übrigen keiner mehr, manchmal wachen die Leute erst auf. Disziplin kennt auch die Alleinarbeit, der innere Schweinehund ist eine gute Metapher für den inneren Gegenspieler, den man überwinden muss.  

Man merkt an diesen Thesen: Von einer Vereinseitigung halte ich wenig, Allein- und Zusammenarbeit gehören zusammen (Arbeitsformen), genauso wie Disziplin und Kontrollverlust (Tugenden) oder Ausbildung- und Fortbildung (institutionelle Settings). Das macht das Ganze auf den ersten Blick nicht leichter, weil es nach „mehr und unentschieden“ klingt. Ich denke aber, dass ein guter Teil der Reformkrisen (in Bildungssystemen) auf die Kappe von unterkomplexen Lösungsformeln geht. Klar, wir müssen alle „irgendwo anfangen“ (verführerisch einfach und eindeutig, um einen Fuß in der Tür zu haben), aber ich vermute, dass eine nachhaltige Vorgehensweise eher drin liegt, auf Widersprüchliches und Mehrdeutiges vorzubereiten und das auch von Anfang an zum Thema zu machen! Widersprüchliches und Mehrdeutiges nicht nur auszuhalten, sondern (gemeinsam) daran auch noch Spaß zu haben, das ist keine Unmöglichkeit, sondern eine echte Future Skill.

Pre-empathische Zusammenarbeit … what the hell?

In der ersten Kalenderwoche des neuen Jahres war ich in Zürich. Anstoß war ein LinkedIn-Werbevideo von Beat Döbeli Honegger & Jöran Muuß-Merholz, in dem die beiden auf das Buch „Zusammenarbeit 4.0“ von Jöran mit Vorstellung eben in Zürich aufmerksam machten. Ich dachte: Warum nicht?

Den Vorabend verbrachte ich mit Beat und Ben Hüter. Wir sprachen über Bildungspolitik, über Nichtneutralität von Lernumgebungen und über Bildungsservices zwischen Hochschule und Privatwirtschaft. Wenn man älter wird – wir sind in den 50ern -, dann gewinnt der Begriff der Ambivalenz (noch mehr) an Bedeutung.

Der nächste Morgen war geprägt von einem Fachgespräch zwischen Ben und mir. Auf der Agenda stand VR (Multiplayer) mit KI für den Kontext Berufsbildung. Hier geht viel Neues. Mich treibt das Thema der didaktischen Rahmung um: Warum und wofür VR genau? Für welches Problem oder zu welchem Zweck? Und nach dem ‚Eintauchen‘ kommt was? Wie ergänzt man dieses technologiegestützte Eintauchen mit dem Eintauchen in eine real-analoge Situation, mit Haut und Haar? In welchem Verhältnis steht Eintauchen zur Reflexion? Noch ein paar Fragen offen 😊, aber es wird!

Auf Hinweis von Klaus Eidenschink habe ich Zürich auch zum Besuch der Kunst-Ausstellung von Marina Abramović genutzt. Mich interessieren ‚Gefühle‘ und ‚Wahrnehmung‘ unter menschlich-existenzialem Gesichtspunkt, u.a. im Kontext der KI-Entwicklungen (the human core). Nur kurz und exemplarisch: Die primär performative Videokunst ist verstörend, dass ist gewollt. Man sieht eine schreiende Frau im Selbstexperiment, über 9 Stunden, bis die Stimme versagt. Man sieht eine Frau mit Menschenskelett auf dem Bauch, skurrile Intimität zwischen Körpern. Ich hatte das Glück bei einer Live-Performance dabei zu sein: Nackte, schöne Frau „schwebt“ auf einem Fahrradsattel sitzend an der weißen Wand. Nach dem ich die schöne Form hinter mir lassen konnte, „sah“ ich den Schattenwurf und ich (!) „spürte“ körperlich – schwitzend und herzklopfend – die enorme Körperanspannung der Künstlerin da an der Wand über endlose 20 Minuten. Ich dachte kurz: Frauen können das, schwebend, meditativ und würdevoll. Wir doch Jämmerlichen …

Zürich endete aber mit etwas sehr Weltlichem: Am späten Nachmittag dann die Vorstellung des Buches „Zusammenarbeit 4.0“. Nach gastfreundlicher Begrüßung durch Gabriela Keller und kurzweiliger Einleitung von Beat in den Räumen der ergon AG erläuterte Jöran seinen Ansatz „Pre-empathische Zusammenarbeit“. Ich habe es mit einem „Kant-Merker“ verstanden:

„Handle so, dass du dem anderen (und dir) keine unnötige Arbeit machst – auch nicht in der Zukunft“:

richtiger Dateiname, den auch andere im System wiederfinden, Meeting-Einladungen nur mit Agenda (Wer, Was, Wo, Warum) zur Orientierung und auch erst dann auf Senden klicken, gemeinsame Online-Docs statt isolierender e-Mail oder Chat-Silos. So ging es weiter, von der Mikro- bis zur Makroebene. Ich fühlte mich an beste Ghostthinker-Zeiten erinnert, da wurde diese Kultur fast 20 Jahre „kultiviert“. Im Anschluss dann Gruppendiskussion in reiner Informatiker-Runde (alles Männer). Ich sagte:

„Das ist alles vernünftig, weil rational. Doch was ist mit Personen, denen das Ganze den Hals zuschnürt, die nicht vollständig ‚Rationalitätstauglichen‘.“

Vier Informatiker-Augen schauen mich ratlos an, Jöran kannte das Problem, spricht von Risikoabwägung und Maßnahmenanpassung, weitere Rationalisierung „next level“. Mir ging es bei meiner Frage um Grundsätzliches (nicht Pragmatisches), um die schleichende „Formalisierung des Menschen“. Abramovićs Kunst kann man vor diesem Hintergrund auch als Mahnung lesen.

Wir bringen uns in Organisationen immer mehr mit rationalen Gründen, freiwillig „in Form“. Darin sind Wildheit, Gefühle, Wahrnehmung – the human core – Störenfriede. Ich denke, wir müssen hier noch mal RICHTIG nachdenken. Mich hätte wahrscheinlich am Ende ein Titel „emphatische Zusammenarbeit“ mehr inspiriert, nicht um Gefühlen ein Primat einzuräumen, sondern um den Horizont offen zu halten, wie wir den „Resonanzzwang des Menschen“ (Eidenschink) mit legitimen und nicht-legitimen Formierungen zusammen kriegen. Das ist die Art von „Zusammenarbeit“, die wir in einem Mensch-KI-Maschinen-Zeitalter stemmen müssen.

Der Mensch hält unendlich viel aus – wie die Frau an der Wand – er zerbricht aber auch unendlich leicht … meist still und leise.

Paradoxien und KI-Nutzung

Joscha Falck hat in einem Blogbeitrag https://lnkd.in/eJDYqeUb auf 9 Paradoxien im Umgang mit KI in der Schule aufmerksam gemacht. Das ist ein wichtiger Punkt, die Paradoxien, denn sie zeigen, dass Wohl und Wehe bei der KI-Nutzung in der Bildung (!) eng zusammen liegen. Das Neue ist also nicht gut oder schlecht sondern erzeugt mindestens zwei Seiten, die in Spannung stehen und die man aushalten muss (vgl. Antinomisches Prinzip).

Falck sagt: „Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen.“ Hier möchte ich ergänzen: Wir müssen uns in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als Lernende sondern als F o r s c h e n d e verstehen! Das hat Implikationen für das Mindset, Skillset und Toolset von SchülerInnen und LehrerInnen, der Administration, aber auch für WissenschaftlerInnen, die sich an dieser forschenden Praxis der Veränderung (schnell, komplex, reflexiv) hilfreich beteiligen möchten.

Absichtslosigkeit

In letzter Zeit lese und höre ich gerne etwas von Klaus Eidenschink. In seinen Büchern oder frei zugänglichen Aufsätzen (mit dem nostalgischen Zusatz „Fassung zum persönlichen Gebrauch“) oder in seinen Videos gibt er mir regelmäßig etwas zum tiefen Nachdenken und Nachempfinden mit. Das Besondere, was mich reizt wie irritiert, ist seine kontraintuitive Position, z.B.: Dass man Konflikte „gleichermaßen schüren wie beruhigen“ können müsse oder dass es im Coaching nicht darum gehen soll, „das Problem weg zu machen“ oder das im Management in der Regel „nichts entschieden“ wird … die Liste ist lang. Seine von Philosophie, Systemtheorie und Psychologie gestützten Ausführungen führen nicht zu einem „Malen mit Zahlen“. Ganz im Gegenteil: Man sitzt nach der Lektüre unentschieden „auf dem Zaun“, ist aber wachsamer gegenüber den einmaligen Situationen, in der wir uns als Coaches, Managerinnen oder einfach Menschen ständig verstricken. Gegen diese Verstricktheit gibt es nicht das eine Mittel; ‚Absichtlosigkeit‘ ist ein von Eidenschink empfohlener Rat, den man aber in einer Welt voller Absichten erstmal aushalten muss.

Learning AID 2024

Gestern war ich auf der Learning AID 2024, eine Konferenz, die seit drei Jahren am Start ist und sich auf das Thema „KI & Hochschulbildung“ spezialisiert hat. Ich möchte nur zwei Punkte herausgreifen, die mir gefallen haben: Zum einen konnte ich im Vortrag von Herrn Stracke (Uni Bonn) erfahren, dass es ein „Netzwerk ethische Nutzung von KI“ gibt, das u.a. eine leichtgewichtige Handreichung für die Hochschule erarbeitet hat, und dass für das Thema eine spezielle europäische Institution existiert: das „Council of Europe“. Toll! Letzteres wusste ich nicht, und es ist sehr wichtig, weil der AI-Act viel zu allgemein formuliert ist, um „Bildung“ zu schützen. Zum zweiten war die Podiumsdiskussion interessant. Mit Marco Kalz, Gabi Reinmann, Anika Limburg und Inga Gostmann waren Stimmen aus der Professorenschaft, dem Mittelbau und der Studierendenschaft vertreten. Die Diskussion drehte sich um Fragen der KI in der Hochschullehre: von Prompting-Kompetenz über neue Prüfungen bis zu bildungsphilosophischen Forschungsansätzen. Dass die Hochschule vor dem Hintergrund der KI-Entwicklungen „grundlegend neu zu denken ist“, formulierten alle. Orientierung wollen die „Future Skills“ geben, zu der Marco und Gabi einen kritischen Beitrag verfasst haben. Schließlich wurde noch auf zwei Begriffe hingewiesen, die mir besonders gefallen haben: Beziehungsqualität und Vertrauen. Ja, ohne diesen „humanoiden Kern“ wird es in der KI-Zukunft nicht gehen – für alle Institutionen, die formale Bildung betreiben, eine Herausforderung!

Ein radikal neues Wirtschaften?

Am 05. Juli war ich in Duisburg auf dem Sommerfest der Anthropa gGmbH. Was ist das: Sommerfest + Anthropia? „Sommerfest“ ist, wenn ca. 400 frohgelaunte und neugierige Menschen in einem gartenähnlichen Stiftungsgelände zusammenkommen und sich von geführten Impulsen, informellen Gespräche und cooler Musik inspirieren lassen. „Anthropia“ ist eine gemeinnützige Organisation im Zwischenraum von Sozialunternehmertum, Wissenschaft und Politik, die es sich zur Aufgabe macht, Menschen zusammenzubringen, für die (der letzte Satz hat es in sich) „eine andere Welt möglich ist!“

Es würde den Rahmen dieses kurzen Beitrags sprengen, um auf die Philosophie der Anthropia tiefer einzugehen, aber am Ende geht es darum, für ein sozial-ökologisches Wirtschaften zu inspirieren und konkrete Wege der Umsetzung (= Transformation) zu bahnen. Und das ist ebenso ganzheitlich wie radikal gemeint, denn, das neue Wirtschaften betrifft ein „Umwerten aller Werte“ (vgl. Podcast mit Karsten Ottenberg), angefangen beim Wirtschaftszweck (Primat Impact) über Prozesse (systemische Geschäftsmodelle oder partizipative Führung) bis zu neuen Finanzmodellen und Kooperationsformen.

Mir hat das Sommerfest gefallen, …

  • weil dort unter dem Stichwort „Sozialunternehmertum“ sehr verschiedene Menschen und Biografien zusammengekommen sind: Bankerinnen, Juristen, Architektinnen, Technikerinnen, Pädagogen … bis zu Sozialarbeiterinnen. Als eine solche Sozialarbeiterin outete sich z.B. Christiane Underberg (ja, genau die), die launig und authentisch über „Enkelfähigkeit“ sprach und damit dem inflationären „Nachhaltigkeitssprech“ eine intuitive und gut nachvollziehbare Form gab.
  • weil ich dort das Projekt der „Alon Academy“ kennen lernen durfte: Bei Gründer Lukas Loja (und den Kindern) steht das „Gekonnte Scheitern“ als Basiskompetenz von zukünftigen Entrepreneuren im Zentrum. Das setzt viel Experimentierraum und eine Lernkultur voraus, bei dem der Begriff „Fehler“ aus dem Wortschatz gestrichen ist: An dessen Stelle tritt das Wort Mutmachen und der Zuspruch, dass es beim nächsten Anlauf besser wird.
  • weil ich dort Oliver Kuschel, einem Gründer der Anthropia (neben Dirk Sander) „Hallo“ sagen durfte: Dabei konnte ich mein noch unscharfes Interesse am Projekt „School of Transformation“ zum Ausdruck bringen.

Was mir auffiel: Unter dem Dach des sozial-ökologischen Unternehmertums kommen Menschen zusammen, die ganz sicher an eine andere mögliche Welt glauben, dies aber in sehr unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Radikalität tun: Da sind welche, die ein „Mietportal“ betreiben, damit Menschen z.B. Gartengeräte mieten statt kaufen – ein klassisches Geschäftsmodell, guter Zweck, ok. Da gibt es welche, die bauen Wälder in Schwellenländern an (pro Klima), mit denen eine systemische Transformation (pro Arbeit) in den Regionen stimuliert wird, die sich in Genossenschaften (Besitz) organisieren und durch ein spezielles Renditemodell (Geld) finanzieren – also systemische Veränderungen, klasse! Und schließlich gibt es da welche, die laden Menschen dazu ein, einem „Change Club“ (Gründer Daniel Klein) beizutreten, um mit Hilfe einer passenden App Veränderungsprozesse im Team zu organisieren, was Motivations- und Vertrauenslücken überwinden hilft – hier finden wir also herausragenden Ansatz der versucht, eines der größten Probleme zu lösen, das des „soziale Dilemmas“.

Was ich sagen will: Das „Sozialunternehmertum“ ist selbst im Werden, Vieles ist noch in der Geburtsphase, aber wichtig erscheint mir, dass dort zwischen Staat und Privat ein neues Gravitationsfeld entsteht, welches das klassische Ehrenamt oder klassische NGOs ablöst und finanziell belastbare und wirksame Strukturen aufbaut. Das Ziel dahinter lautet: die Sozial- und Ökologieprobleme aus Gegenwart und Zukunft mit unternehmerischen Mitteln (!), raffinierten sozialpsychologischen Verfahren (!) und am Ende auch mit passender Technologie (!) – genau in dieser Reihenfolge – zu lösen.