Context Counts

Kürzlich war ich zu Besuch in einer Kleinstadt im schönen Oberbayern. Der Abend wurde zufällig frei, weil meine Freundin dort nicht konnte. Also, was machen, in einer „Kleinstadt“? Da der Tag anstrengend war, fiel die Wahl auf Sauna; Entspannung ist ja immer gut. Fußläufig vom Bahnhof gibt’s eine Art Yogakurs-Fitness-Massage-Sauna-Physiotherapie-Center, also etwas von allem, für alle.

Pünktlich um 19 Uhr rief der Saunameister „Aufguss jetza!“ Es versammelten sich ca. zehn Personen im Alter zwischen 40 und 65, keine Fitnessmädels oder Muskelmänner, sondern Normalgewachsene wie du und ich. Man sitzt kuschelig hier in Bayern, man kennt sich. Als der dickbäuchige Saunameister die Tür von innen schließt, geht ein wohlwollendes Lächeln durch die Runde, als ob ein Programm beginnt. Ich selbst, Hamburger Ausländer mit Sauerländer Zungenschlag weiß von nix.

Nun folgt etwas, was ich dem Internet nur in Andeutungen anvertrauen darf. Der besagte Saunameister steht inmitten der Saunisten, sein Bauch ist 50 cm vor meinem Gesicht. Das Gesamtprozedere ist rein äußerlich durch drei Aufgüsse organisiert. Es beginnt mit: „I’hab eich bissl kristl-med mitgebracht, woos füers näsle“, er meint Duftkristalle mit Eukalyptus, die er auf die heißen Steine streut und mit einer dicken Wasserkelle beschüttet. „Kennt ir den?“ … fragt er auffordernd. Ohne auf die Antwort zu warten, fährt er mit einem Witz, oder besser mit einer Witzsalve, fort. Die Witze enthalten alles, wirklich alles, was auf der roten Liste steht oder was man aus Wirtshausszenen kennt: Wilde Sexualpraktiken, Chauvinistisches, Behinderungen aller Art, diese Ausländer … die Liste ist lang. Jeder Witz wird vom Publikum mit einem lauten Lachen honoriert. Ich mittendrin, synchronisiere mich mit dem Lachen, um nicht aufzufallen.         

Unweigerlich denkt man: Saunen in Bayern sind das Letzte! Zur Ehrenrettung sind nun drei Elemente wichtig: Es handelt sich hier um ein eingespieltes Team, Sprecher und Zuhörer befriedigen ihre Erwartungen, keiner wird verletzt. Im Raum sind echte Ausländer, die im gebrochenen Deutsch Witzfragmente lachend wiederholen oder eigene Interpretationen anschließen. Ich wette, keiner hier in der Sauna ist „da draußen“ diskriminierend oder ausgrenzend oder im Sprechen irgendwie billig. Das, was IM Raum „gespielt“ wird, ist nicht mit Maßstäben zu betrachten, die außerhalb des Raumes als ethisch korrekt gelten oder zum guten Ton und Umgang gehören.

Wie geht man jetzt mit sowas um? Die erste Variante ist die, dass einem das alles wurscht ist. Punkt. In der zweiten Variante regt man sich schrecklich auf, weil so etwas, egal wo, einfach nicht geht (Universalmoral). Die dritte Variante akzeptiert Sonderräume, in denen die Universalmoral „auf Zeit“ außer Kraft gesetzt ist (sie gilt weiterhin, nur eben draußen) und eine andere Moral leitend ist, die eben das Spiel dieses Sonderraums regelt. Das kann dann zu einer Art A-Moral führen, die aus gesellschaftlicher Perspektive verwerflich, für die Beteiligten aber hochfunktional ist.

Und, darf man das nun, über sowas lachen? Ich denke ja, rein pragmatisch, weil wir sonst alle Saunen in der Republik schließen könnten, denn auch anderswo geht es fröhlich zu. Aber eben auch, weil eine Gesellschaft nur durch solche kulturellen Sonderräume funktioniert. Das gilt im Großen, wenn wir uns die „böse“ Wirtschaft oder den „verschwenderischen“ Theaterbetrieb oder den „unmoralischen“ Sport anschauen oder im ganz Kleinen, in der Sauna, in der Menschen über Dinge gelacht haben, die ihnen draußen, im echten Leben, zu Recht die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Context Counts.

Ein Gedanke zu „Context Counts“

  1. Großartig geschrieben, Frank! Ich habe nicht das Talent für solche wunderbaren Szenenbeschreibungen – und Du mittendrin. Allein das Kopfkino … einfach großartig! Dazu kommt Deine zweite Gabe, Beobachtungen originell zu reflektieren und zu entschlüsseln. Deine dritte Umgangsform, Sonderräume, ist die einzige, die Gesellschaften funktionieren lässt. Ein zeitgemäßer und zeitloser Beitrag. Danke!

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