Vor gut 20 Jahre habe ich bei SIEMENS München im Wissensmanagement gearbeitet, da ging es auch schon um „Wissenstransfer“, „Leaving Expert“ und natürlich um Analogien/Metaphern, um Brücken im Denken und in der Kommunikation zu bauen. Mit dem Besuch bei der Cogneon Academy (siehe letzter Post) bin ich wieder in die Themenwelt hineingesprungen, in der ja auffallend viel von Lernen, aber so gar nicht von ’sich bilden‘ gesprochen wird. Das kommt noch ;-).
Hängen geblieben bin bei einem Beitrag von Erlach & Mittelmann zum „Wissenstransfer“, einschließlich des gleichnamigen Buches. Grund genug, mir das Buch genauer anzusehen und – ganz klassisch – eine Rezension zu verfassen. Ahoi!
Buch: Erlach, C., Mittelmann, A., Nakhosteen, C., della Schiava, M. & Terhoeven, G. (2025). Praxis Wissenstransfer – Erfolgsstrategien und bewährte Lösungswege. Hanser: München.
Worum geht es? Dass 20 Millionen Baby-Boomer in Rente gehen, ist schon länger bekannt. Aktuelle Meldungen aus den Nachrichten machen den Bedarf noch mal anders greifbar: BOSCH entlässt über 10.000 MitarbeiterInnen, u. a., weil die Automobilindustrie lahmt. Mit dem Weggang dieser MitarbeiterInnen geht auch erfolgskritisches Wissen und Können verloren: wie man Maschinen wartet, wie man Netzwerke pflegt, wie man Menschen führt oder Aufträge akquiriert – die Liste ist lang. Mit welchen Methoden und Strategien sich dieses Wissen aus Sicht der Organisation effizient und menschlich angemessen sichern und weitergeben lässt, darum geht es beim Thema „Wissenstransfer“.
Was ist das Ziel? Das Autorenteam Erlach, Mittelmann, Nakhosteen, della Schiava und Terhoeven hat mit dem im Hanser-Verlag veröffentlichten Buch „Praxis Wissenstransfer“ seine langjährigen Praxiserfahrungen (etwa 700 Transferfälle) zum Thema gebündelt, gegenseitig validiert und macht es Interessierten aus HR, Wissensmanagement, Leadership, insbesondere aber den sogenannten Wissenstransfer-BegleiterInnen, zugänglich. Mit dem Ergebnis sucht das Autorenteam nach eigenen Angaben einen Spagat zwischen Rezept und Lexikon (S. 4).
Was ist das Besondere? Warum „Rezept“, warum „Lexikon“, warum „Spagat“? Warum sagt das Autorenteam nicht einfach, wie es geht? Nach dem Motto: Wenn eine Führungskraft das Unternehmen verlässt, dann kannst du das Wissen mit folgenden sieben Schritten sichern! Weil es eben so einfach nicht geht, denn jede Transfersituation ist so einmalig wie die Menschen, deren Wissen man „transferieren“ möchte, und das verbietet alles Rezept- und Formelhafte. Gleichzeitig muss man aus Effizienzgründen darüber nachdenken dürfen, wie man ähnliche Fälle mit gleichen Methoden bearbeitet oder mehrere Problemsituationen zu Mustern von bewährten Methoden verknüpft, was – im vorliegenden Buch – mit einer Art „Mustersprache“ gelingen soll. Mustersprache – spätestens ab hier merkt man: Das Buch richtet sich ganz besonders an die oben erwähnten „Wissenstransfer-BegleiterInnen“, die mit einem hohen professionellen Anspruch und methodischem Ethos ihrer Arbeit nachgehen.
Was bietet das Buch nun? Das Buch bietet mit seinen Methoden und Praktiken für den individuellen Wissenstransfer sowie ergänzenden Elementen zur organisationsweiten Steuerung des Themas einen umfassenden Blick auf das Phänomen und seine Anforderungen. Die Darstellung von Methoden und Praktiken folgt bewusst keinem Problem-Lösungs-Muster, einem Malen-nach-Zahlen, sondern ist in Form der genannten Mustersprache aufgebaut. Neben einer kurzen (a) Einleitung zu jeder Methode gibt es (b) eine zentrale Fragestellung, die mit (c) Spannungsfeldern verknüpft wird. Die Spannungsfelder haben vor allem die Funktion, für die oft widersprüchlichen Bedingungen einer Situation zu sensibilisieren. Erst dann wird man mit (d) der Lösung konfrontiert, zu der (e) sog. Stolpersteine genannt werden, die typischerweise in der Praxis auftreten. So vorbereitet, liest man (f) ein reales Beispiel aus der Praxis. Das Muster endet mit Verweisen auf andere Muster, um kreativen Anschluss und ordnende Abgrenzung zu ermöglichen. Nach dieser Logik finden sich dann Muster zum Wissenstransfer mit und ohne Transferbegleitung, zwischen Führungskräften, im internationalen Kontext oder in einer Neuorganisation, um nur wenige der insgesamt 49 Beispiele für individuellen und organisationalen Wissenstransfer zu nennen.
Was leistet das Buch (nicht)? Das Buch leistet mit seinen vielseitigen Beispielen aus der Praxis des Wissenstransfers in Organisationen (nicht nur Wirtschaft), einschließlich der Leitfragen und rahmenden Bemerkungen zum Wissensmanagement eine anschauliche und erfahrungsgesättigte Basis zu realen Herausforderungen und damit eine gute Orientierung für Menschen, die einen Zugang zu diesem besonderen Aufgabenfeld suchen. Leider enthält das Buch wenig Hilfen zum Einsatz von unterstützenden Technologien; die Potenziale der generativen Künstlichen Intelligenz werden gänzlich ausgespart. Für Interessierte dürfte die „Mustersprache“ anregend sein, denn die Erweiterungen einer klassischen Problem-Lösungs-Beschreibung um die Spannungsfelder und Stolpersteine nötigen zu einem eher reflexiven statt reflexhaften Vorgehen, was der Ausbildung und Kompetenzentwicklung von Wissenstransfer-BegleiterInnen Vorschub leisten kann. Allerdings gibt es auch dazu ein „Aber“: Die Mustersprache von Christopher Alexander bringt neben den Vorteilen auch große Herausforderungen mit sich. Blicken wir dazu kurz auf ein verwandtes (mir gut bekanntes) Feld: So empfinden viele HochschuldidaktikerInnen, die ebenfalls ihre Methoden intelligent ordnen wollen, die Arbeit mit den Mustern als zu „theoretisch“ oder starr; es treten auch Redundanzen auf, die vor allem die Spannungsfelder und Stolpersteine betreffen. Es wird kritisiert, dass die von Alexander eingebrachten „Lebenseigenschaften“ in seinem Originalwerk beim Transfer in andere Kontexte ausgeklammert werden, was das emergente Potenzial der Mustersprache zu kappen droht (vgl. Baumgartner & Berger, 2014). Es bleibt also in der Wissensmanagement-Community zu diskutieren, ob die Mustersprache im Buch von Erlach und Mitautoren ein nützliches Mittel ist oder ob der Theorieimport aus der Architektur eher belastet, zumal in einem Buch, das „fast ohne Theorie“ auskommen wollte (S. 3).
Frank Vohle, Hamburg
Literatur: Baumgartner, P. & Bergner, I. (2014). „Lebendiges Lernen gestalten: 15 strukturelle Empfehlungen für didaktische Entwurfsmuster in Anlehnung an die Lebenseigenschaften von Christopher Alexander“. In Lernräume gestalten – Bildungskontexte vielfältig denken, hrsg. von Klaus Rummler: 163–173. Medien in der Wissenschaft. Münster: Waxmann.