Weblogs & Chatbots: Wenn Quadrate auf Kugeln treffen

Als ich 2005 mit meinem eigenen Weblog startete, hatte ich zusammen mit Gabi Reinmann und Sebastian Fiedler eine Unterhaltung in irgendeiner Kneipe im Nirgendwo. Es ging um die einfache Frage, was ein Weblog ist oder genauer, was ein Weblog wesentlich ausmacht. Sebastian hatte die Jahre zuvor seinen Abschluss in „Instructional Design“ an einer amerikanischen Universität gemacht und er war für unsereins ein interessanter (und auch sehr bereichernder) Nerd, vor allem, aber nicht nur, was das Thema Weblogs anging. Während Gabi und ich wie selbstverständlich auf den „Beitrag“, den „Post“, pochten (darin stecke doch die Kreativität, oder?), pochte Sebastian ebenso energisch auf die RSS-Feeds. Es war für uns Nicht-Nerds ein geflügeltes Wort für das, was wir zwar der Mechanik nach, aber nicht wirklich tief verstanden: „RSS-Feed“.

In diesen Nuller-Jahren entdeckte ich auch erstmals Beats Bibliothek. Hinter „Beat“ steht der Schweizer Informatiker und Bildungsdidaktiker Beat Döbeli Honegger und hinter seiner „Bibliothek“ steckt, ja was denn, eine Art „Luhmannscher Zettelkasten“, wie er selbst schreibt. Zu finden sind dort u.a. Texte, Begriffe, Personen, Fragen, Aussagen und Hitlisten rund um das Thema Medienbildung. Alle Elemente – über eine Million – sind verknüpft und bilden einen persönlichen Thesaurus, weswegen der Name Beats Bibliothek treffend ist. Was mich fasziniert: Ich sah damals beim ersten Lesen noch nicht annähernd, was sich da herausbilden sollte; ich hatte dafür keine Kategorie im Kopf, die mir helfen konnte, zu verstehen. Jetzt aus der Rückschau, nach 25 Jahren, mit alle den Erfahrungen und Vergleichen (Zettelkasten, Hypersystem, Internet) ist es klar(er), zumindest sehe ich den Sinn, die Umrisse und den Hintergrund einer „Memex“, einer persönlichen „Ontologie“.

Seit ein paar Wochen gibt es im Bereich der Bildung scheinbar nur noch ein Thema: Chatbots. Zwar ist KI/AI seit Jahren bekannt, aber (bisher) gefühlt sehr weit weg von der eigenen Arbeit in Schule, Hochschule und Berufsbildung. Mit „GPT“ von OpenAI ist ein Prototyp verfügbar, der KI für alle Nicht-Nerds erlebbar macht. Was diese Maschine kann, ist erstaunlich bis ernüchternd (vgl. klasse Vortrag von Jörg Löviscach), je nach Erwartung und Expertise. Exemplarisch und übervereinfacht kann man aktuell drei Standpunkte an Hochschulen ausmachen: Christian Spannagel fordert z.B. einen pragmatisch-experimentellen und auch „nüchternen“ Umgang mit Chatbots, um Erfahrungen zu sammeln, die ein tieferes Verständnis fördern. Beat Döbeli Honegger hat damit begonnen, systematisch Vor- und Nachteile zusammenzutragen, um das Thema für sich und andere grundsätzlicher einzuordnen. Gabis Beiträge zeigen offen die Ungewissheit und die tastende Suche nach einem erhellenden Begriffshorizont für das, was „da vor sich geht“ und gehen sollte! (vgl. Wettrüsten oder Wertewandel?)

Was verbindet nun diese drei Geschichten und warum erzähle ich sie? Sebastians RSS-Feed, Beats Ontologie und OpenAIs Chatbot überstiegen und übersteigen mein Denken: Ich hielt beim Thema Weblog etwas für wesentlich, was aber gar nicht wesentlich war, ich verstand weder die Dynamik noch den langfristigen Nutzen eines persönlichen Hypernetzwerks und natürlich (!) verstehe ich nicht die Implikationen für Bildung und Gesellschaft, was Chatbots und die zukünftigen Versionen des ersten Prototyps betreffen.

Bei all dem geht es mir in etwa so, wie dem (zweidimensionale) Quadrat aus dem Roman „Flatland“, das erstmals auf eine (dreidimensionale) Kugel trifft. Wikipedia schreibt: „Erst nach langer Mühe gelingt es der Kugel, das Quadrat von der Existenz der dritten Dimension zu überzeugen, und sie nimmt es zu einem Rundflug über seine zweidimensionale Heimat mit.“ Ich habe also Hoffnung, dass wir uns in die höhere Dimension des Denkens hineinfinden, um besser zu verstehen, was da vor sich geht und was unser Beitrag gestaltend (Design) wie begrenzend (Ethik) auf der Ebene der Organisation bis zur Menschheit als Ganzes sein kann. Aber ich meine nicht ganz falsch zu liegen, dass es sich bei GPT & Konsorten um ein qualitativ neues Phänomen handelt, weit mehr als ein Werkzeug, das wir vorerst nur in Analogien zu schon bekannten Dingen verstehen, aber für das wir eine neue Denkdimension erschaffen müssen: Was ist an GPT „kugelig“ und wo ist unser Denken bis her „quadratisch“?

Vier Dinge beunruhigen mich, ich gebe es zu: (a) Die Geschwindigkeit und Qualität, mit der sich KI-gestützte Software entwickelt (s.o.), (b) die Geschwindigkeit und Qualität mit der sich KI-gestützte Roboter entwickeln, (c) die fast unbegrenzten Geldmittel von Investoren und Verteidigungsindustrie in xx-Milliardenhöhe, mit denen a und b unterstützt werden und (d) wie wenig mutig wir immer noch in der Bildung über all dies sprechen und Konsequenzen ziehen. Mein Ruderlehrer sagte immer, „machen sie sich Gedanken“, … nachdem jemand von uns ins Wasser gefallen war. Recht hatte er.