Irgendwann musste ich es tun, da reicht ein Lesen und Studieren im stillen Kämmerlein nicht mehr aus, da sucht man Nähe, Anschauung und Kontakt. Mit 15 Teilnehmern (zehn Frauen / vier Männer) ging es Anfang März in Lenzburg bei Zürich in einer dreitägigen Weiterbildung darum, sich in einer Art Schnelldurchlauf der ‚Metatheorie der Veränderung‘ (MdV) zu nähern. Sarah Besel und Klaus Eidenschink vom Hephaistos-Institut hatten dazu eingeladen, sich einen „Geschmack auf die Zunge zu legen“, wie sie sagten, also in Theorie und ihre Praxis einzutauchen. Die Erwartungen waren also schwindlig hoch, die Zeit knapp und die Temperaturen im Raum lagen oberhalb der 25 Grad-Marke – insgesamt also echt heiß.
Ich möchte meine Eindrücke so schildern, wie ich sie erlebt und im Nachgang – nach etwas Erholung – verarbeitet habe. Das sind im Wesentlichen drei Aha‘s und ein Autsch.
Aha Nr. 1: Die Metatheorie der Veränderung in einem Atemzug
Die kurze Geschichte der MdV lässt sich so erzählen: (A) Den Anfang machen zwei (ontologische) Aussagen über den Zustand oder die Beschaffenheit der Welt: ‚Alles ist im Fluss‘ und die ‚Welt ist zerrissen‘; da klingelt es bei jedem, der schon mal in die Geistesgeschichte hineingeschnuppert hat. (B) Wenn alles fließt, dann ist Veränderung der Normalzustand. Aber: Menschen, die um Hilfe ersuchen, haben Probleme mit dem Festhalten, nicht mit der Veränderung. Deshalb sind die Coaches der MdV auch Experten für Stagnation, oha! Veränderung entsteht aus der Bearbeitung von Stagnationen. (C) Jede Bearbeitung einer Stagnation ist zwingend an Entscheidungen gebunden: keine trivialen Entscheidungen wie ‚gut oder böse‘, sondern komplexe, verdrehte, verwickelte wie ‚gut oder gut‘. (D) Um Stagnationen wahrzunehmen und zu bearbeiten, haben sich in der Therapie und im Coaching ‚Schulen‘ mit vielfältigen Methoden und unüberschaubaren Methodenspielarten entwickelt, die Gleiches unterschiedlich und Unterschiedliches gleich bezeichnen. Die MdV fasst diese Vielfalt in genau acht Aktionsfelder, genannt Leitunterscheidungen, zusammen, und zwar so, dass an der Oberfläche generische Begriffe und keine (trennenden) Kunstwörter zu finden sind (Bewusstsein, Selbstverantwortung, Verstehen etc.). Zu jedem Aktionsfeld kommen zwei komplementäre Ausprägungen hinzu, welche mögliche Veränderungsrichtung anzeigen, die je nach Kontext und Zeitpunkt funktional oder dysfunktional sein können (Achtung, Luhmanns Systemtheorie). In diesem Sinne ist die MdV ‚ganzheitlich‘, wozu auch gehört, dass sie von Wertungen und Normen befreit ist; ein Beobachten der eigenen Blindheiten von Coaches oder Schulen ist dadurch möglich. (E) Schlüsselorte für Stagnationen sind Bedürfnisse; die MdV macht auch hier aus der Vielzahl der in der Literatur vorhandenen genau drei Spannungspärchen (Nähe-Distanz, Freiheit-Sicherheit, Einzigartigkeit-Zugehörigkeit). Soweit mal die Idee in einer Nussschale, das ist das nackte Instrumentarium, nicht die Operation!
Aha Nr. 2: Die Welt ‚ist‘ nicht, sie ‚passiert‘
Die MdV, wie sie hier stark verkürzt wurde, ist eingebunden in eine uralte Denktradition: Seit Aristoteles weiß man, dass alle ‚Veränderung‘ oder das ‚Werden‘ durch zwei komplementäre Formen bestimmt wird: Energeia und Entelechie. Während Energeia dem physikalischen Energiebegriff entspricht und nach Ursache-Wirkung (Wirkursache) funktioniert, steht Entelechie für die ‚Verwirklichung einer Möglichkeit‘ (Zielursache). Während Energeia in der Moderne eine Erfolgsgeschichte geworden ist, steht Entelechie (wie ein Entlein) zu Unrecht im Schatten. Erst die Quantenphysik im 20. Jahrhundert machte wieder darauf aufmerksam, dass die Relativitätstheorie nicht das Maß aller Dinge ist, sondern im Subatomaren andere Gesetze gelten. Das Elementarteilchen sei weniger ein Teilchen, sondern eher ein ‚Passierchen‘, dass sich je nach Beobachtung ‚entscheidet‘, an welchem Ort es wahrscheinlich auftaucht, eben ‚passiert‘. Wenn ich all dies richtig verstanden habe, fußt die MdV auf dem Gedanken der Potenzialität von Wirklichkeit, die sich durch Beobachtung beeinflussen lässt, weswegen begriffliches Hinsehen und körperliches Hinspüren so wichtig sind. Zumindest gilt aber: Die MdV versteht man nur richtig, wenn man sie in diesem weiten Rahmen aus Naturphilosophie interpretiert (Aristoteles, Heisenberg, Weizäcker, Dürr und Konsorten), wo dann auch der Begriff der ‚Seele‘ seinen Platz hat.
Aha Nr. 3: Theorie in Aktion, die Form macht’s!
Wir sind uns alle einig: Eine Theorie, die kein Rüstzeug für eine komplexe Praxis bietet, ist bestenfalls nutzlos. Deshalb ist die MdV so, wie sie ist, mit den Leitunterscheidungen, die komplementären und wertebefreiten Ausprägungen und dem philosophischen Hinter- und Untergrund, der hier nur angedeutet wurde. Und ja, die Bearbeitung von menschlichen Stagnationen ist komplex. Komplex heißt: Es kann auch plötzlich ganz anders kommen, unerwartet, überraschend, wie aus dem Nichts, ‚Passierchen‘ halt. Da gibt’s keine richtige Planung, aber doch ein Vorbereitet-SEIN. Ich war also sehr gespannt, wie die Theorie in Aktion funktioniert, was ich davon sehe oder wahrnehme. Zur Anschauung hatte Klaus Eidenschink eine Teilnehmerin gewinnen können, mit ihm eine kleine Coachingübung zu durchlaufen. Zwei Stühle, zwei Menschen, die sich anschauen. Es folgten 45 Minuten ‚Coaching‘. Nur in der ersten Minute versuchte ich zu raten, auf welchen Aktionsfeld Klaus Eidenschink gerade seinen Schwerpunkt legte. Dann schob ich das Schaubild beiseite, lehnte mich zurück und beobachtete nicht den Coach mit seinen schwindligen machenden Einzelaktionen … einfühlsam sprechen, hartnäckig Entscheidungen einfordern, eigene Gefühle spiegeln, Gesichts- und Körperausdruck interpretieren, leichte Berührungen am Körper, Rollen- und Instanzenspiel mit Stuhl … sondern eher die Form: Im Instrumentarium der MdV war er ‚überall‘, ‚gleichzeitig‘, was man im Kurs auch als „oszillierend“ bezeichnete. Diese Oszillation ist Theorie in Aktion, eine unsichtbare Gleichzeitigkeit der Aktivierung von unterschiedlichen Potenzialitäten mit je einem sichtbaren Handlungsfokus … so, wie wenn man viele Bälle in der Luft hält (und die Form schielend beobachtet), aber nur einen Ball berührt –schwierig zu beschreiben, wie alle Spiele IN Aktion. Es ist in jedem Fall eine Kunst, langjährig erarbeitet, in unendlich vielen Sitzungen. Leichtigkeit ist ein Produkt intensiver Arbeit, so ist das nun mal. Und, hilft jetzt die MdV dabei, sich vom Novizen zum Könner zu entwickeln? Ja, denn im Modell ist die Struktur angelegt, quasi das Fahrrad mit all seinen Bauteilen. Das muss nun jeder selbst nehmen und lernen, es zu ‚prozessieren‘. Die MdV ist genau keine Beschreibung der physikalischen Gesetze, sondern sie bietet hilfreiche ‚Prinzipien‘ wie diese, dass man beim Fahrradfahren den Blick auf den Horizont halten muss (während dessen man teils Widersprüchliches wie X, Y, Z gleichzeitig tut), wenn man nicht das Gleichgewicht verlieren will.
Autsch: „Frank, lass alle Hoffnung fahren!“
In der Weiterbildung gab es mehrere praktische Beispiele, die durch die Leitung lebendig ‚inszeniert‘ wurden: Coaching, Rollenspiele, Experimente. Der gemeinsame Kern dieser Beispiele ist, dass wir überall ‚Übergriffigkeit‘ erleben; der Chef, der in den eigenen Kompetenzbereich hineinregiert, der Freund, der sich Nähe trotz Distanzwunsch nimmt, die Mutter, die auch noch mit 65 Jahren sagt, wo es bei der Tochter langgeht … und TikTok macht den Rest. Wie selbstverständlich räumen wir ‚soziale Normen‘ (Chef helfen, kameradschaftlich sein, Mutter achten) ein absolutes (!) Primat gegenüber individuellen Bedürfnissen ein: Wir nehmen diese dann nicht wahr, relativieren sie mit Scheingründen, sprechen sie nicht klar aus oder verteidigen sie nicht kraftvoll. Ich sage: „Da muss man doch was tun! Was läuft denn da schief in Schule, Hochschule, Beruf und sozialen Medien?“ Noch ehe ich mich weiter in Rage rede, kommt dieser Satz von Klaus Eidenschink: „Frank, lass alle Hoffnung fahren.“ Stille im Raum und ich innerlich ‚oben auf‘. In den Folgetagen macht mir dieser Satz zu schaffen, ich denke nicht nur an die Frauen in Afghanistan. Ja, ich kenne Luhmanns Satz, dass wir fast nix ändern können, ich kenne die Weisheit, sich in Absichtslosigkeit zu üben und Erwartungen ‚bei sich‘ zu halten, in schlimmen Fällen auch Ohnmacht zu akzeptieren. So schafft man es, gut durch die Zeit zu kommen. Doch wo hört diese Philosophie auf und wo fängt politisches Engagement oder Zivilcourage an? Klima und Frieden sind ehrenwerte Ziele, denen man sich mit Haut und Haar verschreiben kann. Der Weg mit ihnen kann ungemein erfüllen, aber sie enttäuschen auch, mit Sicherheit! Ich vermute mal: Die MdV will Menschen in Not helfen, dafür ist sie gemacht. Sie ist keine politische Bildungstheorie – will sie nicht sein –, bei der Menschen mit der Idee konfrontiert werden, gesellschaftliche Verantwortung zu ‚tragen‘ (Menschenrechte etc.) Man muss wohl aber auch kritisch zugestehen, dass eben diese ‚normativen‘ Bildungstheorien Gefahr laufen, faktisch wenig Impact zu erzeugen, was ich erstmal als Arbeitsthese hier stehen lasse. Vielleicht könnten die Bildungswissenschaften von der MdV lernen, nicht nur, was die Handlungsregulation angeht (Empowern), nicht nur von der Werthaftigkeit der Wertefreiheit, nicht nur von der systemtheoretischen Denke in Funktionen und Prozessen, sondern auch von der Art der Theoriekonstruktion, die mindestens disparate Schulen in ein Gespräch bringt.
Fazit: Ich mache es kurz. Die MdV ist „brillant“ (Zitat: Gunther Schmidt), aber vielleicht auch ‚elegant‘, weil sie so viel mit so wenig, aber Zentralem, ausdrückt und ich Menschen gesehen habe, die das so kraftvoll und schön praktizieren. Ich glaube, ich brauche jetzt Abstand. Nicht, weil ich das Erlebte nicht weiter anziehend finde, sondern weil ich jetzt mal in die Eigensteuerung kommen muss.
Danke Sarah, danke Klaus für liebevolle und tief informierte Impulse, für einen Geistesrahmen, der einen trägt, gerade weil er anspruchsvoll ist. Oder für die, die dabei waren: Menschen sind keine Fußbälle.