Anfang 2008 hatte ich mir vorgenommen, einen wissenschaftlichen Artikel zu unserem Tischtennisprojekt zu schreiben. Inhaltlich wollte ich das didaktische Grundkonzept, die eingesetzten Technologien und eine Befragungsstudie vorstellen. Die Zeitschrift der Wahl im Bereich des Sports ist die SPORTWISSENSCHAFT, das Zentralorgan der deutschsprachigen Sportwissenschaft. Leider wurde der Artikel „Blended Learning in der Trainerausbildung“ von den Gutachtern abgelehnt. Ich war nach sorgfältigem Studium der drei Gutachten darüber so erbost, dass ich mich hinsetzte und ein ca. 10-seitiges Gegengutachten zusammenstellte, in dem ich jedes der in den Gutachten genannten Argumente systematisch aufgriff und so gut es ging entkräftete (Zielsetzung, Aufbau, Methode, Literatur, wissenschaftstheoretischer Standpunkt, etc.). Das hatte damals kathartischen Charakter und damit einen spürbaren Nutzen! Im Windschatten dieses Zehnseiters lauerte aber ein Potenzial, das ich zunächst nicht bemerkte: Gegengutachten sind wissenschaftliche TRAININGSLAGER!
Gott sei Dank hat mich im Nachgang dieser ersten Euphorie ein Hambuger Professor davor bewahrt, meine zehnseitige Kampfschrift online zu stellen – trotz aller Potenziale, die eine solche Öffnung versprach. Der zentrale Satz von ihm: „Wenn du dich auf die Spielregeln einlässt, dann darfst du am Ende nicht aussteigen“. Praktisch riet er mir (mit genauem Fingerzeig auf die wunden
Punkte), den Artikel zur überarbeiten und bei einer anderen Zeitschrift einzureichen.
Da ich immer schon mal eine Artikel in englischer Sprache veröffentlichen wollte, wandte ich mich an die Zeitschrift „Physical Education and Sport Paedagogy“, zumal das Ziel der Zeitschrift zu meinem Ziel zu passen schien (… promotes the communication of educational research in physical education and youth sport and related fields such as teacher and coach education). Der gekürzte und in Englisch verfasste Artikel (many thanks to Nina) kam aber nicht mal über die erste Hürde. Obwohl neue methodische Ansätze eines Online-Coachings, einer mediengestützten Lehre im Bereich der Trainerausbildung im Zentrum standen, wies man mich knapp mit der Begründung ab, dass der Inhalt nicht mit den Zielsetzungen der Zeitschrift vereinbar sei. Ich hatte den Eindruck, dass das Thema „E-learning“ nicht willkommen war.
Also suchte ich weiter und blieb beim „International Journal of Sports Science and Coaching“ hängen. Ich schrieb den Herausgeber Simon Jenkins direkt an, der Artikel wurde von zwei Gutachtern aus UK und Australien positiv eingestuft. Mit kleineren Überarbeitungen ist der Artikel "Cognitive Tools 2.0 in Trainer Education" im 4. Quartal 2009 im IJSSC veröffentlicht worden, also gut 2 Jahre nach der ersten Fassung.
Wisst ihr, was bei dieser „Ochsentour“ am wichtigsten war? Mein zehnseitiges Gegengutachten! Warum? Weil ich da (zumindest simuliert) mit Wissenschaftlern in einen Diskurs getreten bin, ich war gefordert „meine Sache“ zu verteidigen, gute Gründe zu finden, warum ich mit den Gutachten nicht einverstanden war. Das war eine Art schriftliche Mini-Disputation und für mich „großes Tennis im Hinterhof“. Es geht nicht darum, ob meine Gegenargumente TATSÄCHLICH entkräftend waren, sondern darum, dass hier das Spiel der Wissenschaft „These-Begründung-Gegenthese-Begründung etc.“ gespielt wurde. Wo darf man das denn heute noch spielen? Auf Tagungen im 15-min Takt? In Zeitschriften, wo ein Gutachten das akademische „Basta“ ist?
"Gegengutachten sind wissenschaftliche Trainingslager“ – so die Überschrift. Warum also nicht dieses Brachland zum wissenschaftlichen Lernen nutzen? Gabi hatte vor Kurzem in ihrem Blogbeitrag „Minderheitenmeinung“ auf ein solches Trainingslager aufmerksam gemacht: „Öffentliche Diskussion nach anonymem Peer-Review“, so der Titel des Forums von Herrn Prof. Brügelmann und dem Pädagogischen Journal.
Ist ein „Forum“ die Antwort? Nein natürlich nicht! Das Problem ist komplex und man muss sich fragen, wie viel Öffnung bei Zeitschriften sinnvoll und machbar ist. Dass aber die sorgfältig verfassten Gutachten von Experten derzeit primär zum „stillen Lesen“ genutzt werden, ist – gelinde gesagt – supotimal: für den Autor als lernende Person, für die Zeitschrift als lernende Organisation und auch für die Wissenschaft als fortschreitende Idee.