Design mit Theorie, nicht ganz ohne

Als ich mit Gabi vor ca. 15 Jahren meinen ersten und bisher einzigen Artikel zum Thema „Design-Based Research“ schrieb, wusste ich nicht, dass mich das Thema noch lange begleiten würde. Zum einen konnte ich Gabi bei ihrem über 20-jährigen „Ringen“ zu DBR über die Schulter schauen; bei uns gibt’s zum Frühstück nicht selten Text- und Ideenfragmente als Geistesnahrung mit Bitte um Feedback 😉. Zum anderen habe ich selbst in den letzten beiden Jahrzehnten im Kontext der Beratung von Organisationen dabei mitmachen dürfen, diese zu verändern, und das läuft darauf hinaus, Neues zu erfinden, dieses Neue in der Praxis zu pilotieren und das, was man lernt, zu etwas Systematischem zu ordnen.

Dass das Letztgenannte etwas mit „Design“ zu tun hat, habe ich erst in tieferer Auseinandersetzung mit dem neuen Buch „Forschendes Entwerfen“ (Freier Download, cc) von Gabi Reinmann, Dominikus Herzberg und Alexa Brase verstanden. Warum?

Normalerweise denken wir uns Veränderungsprozesse in Organisationen als Phasen: Analyse, Ideen- und Prototypenentwicklung (Design), Umsetzung, Evaluation, Re-Design. Viele DBR-Modelle haben diese Grundfigur der Phasen übernommen und man erkennt schnell, dass „Design“ typischerweise nur an zwei Stellen explizit wird, nämlich beim „Konzept“ und bei der „Weiterentwicklung des Konzepts“. Design bleibt damit im Veränderungsprozess etwas Selektives und am Ende etwas für Schön- oder Schöpfergeister.

Die Autoren von „Forschendes Entwerfen“ gehen mit Inspiration des Schweizer Designforschers und Architekten Simon Kretz einen anderen Weg: Bei ihnen ist das „Entwerfen“ (= Designhandlung) theoretisch wie praktisch an alle (!) Phasen des Veränderungs- und Erkenntnisprozesses gebunden, das heißt: Man entwirft und erkennt, wenn man neue Ideen erfindet (immer in Rückgriff auf und im Abgleich mit Theorien, Normen und Standards, die es schon gibt), man entwirft und erkennt, wenn man das Konzept in der Praxis projektiert (und dabei merkt, wie widerständig die Praxis gegenüber der Idee ist), man entwirft und erkennt, wenn man die Passungen und Nichtpassung von Idee und Projektierung systematisch ordnet (und sieht, wo Invarianten oder lokale Prinzipien stecken). Der theoretische wie praktische „Clou“ liegt in der Gleichzeitigkeit von erfindenden, projektierenden und ordnenden Handlungen, wobei Gleichzeitigkeit eher ein Oszillieren des Bewusstseins meint, ein „in der Luft halten und Bezugnehmen“ sehr unterschiedlicher Gegenstände und Prozesse. Es kann also sein, dass ich gerade ein Konzept erfinde (Phasenbezug), aber „ich tue das in einer Weise“, dass ich durch Gedankensimulation die Idee praktisch projektiere und durch Antizipation der Ergebnisse Ordnung schaffe, die mich zu ersten, wenn auch vagen, Erkenntnissen führen. Es geht also nicht mehr um einen „Dreischritt“, sondern um einen „Dreiklang“, ein gleichzeitiges Jonglieren und Variieren mit den drei Entwurfs- oder Designhandlungen. Mit dieser Metapher lässt sich der innovative Kern fassen.

Die Abbildung 4 aus dem Buch (S. 35) zeigt diesen „Shift“ vom Dreischritt zum Dreiklang; eine unscheinbare Grafik, die es aber in sich hat, weil damit der Übergang von einer „objektivistischen“ Phasenstruktur hin zu einer handlungstheoretischen Ordnung getan ist, was – wenn man so will – methodologische, epistemische, ontologische und anthropologische Konsequenzen hat.

Die Leistung des Buches liegt nicht in der Herausarbeitung dieser Hintergrund-Dimensionen, sondern darin, DBR erstmals konsequent von der Designtheorie her zu denken sowie in der Beantwortung der Frage, wie man im Kontext der Hochschule eine designbasierte Bildungsforschung methodisch praktisch betreibt. Der Gewinn liegt also genau in dieser „Brücke“ zwischen eleganter Theorie und hilfreichen Methoden, einschließlich der Standards, die diese Brückenbegehung sichern sollen.

ChatGPT und Werte: Was würde Data sagen?

Vor gut 10 Jahren habe ich eine Rezension zum Buch von Karen Gloy verfasst, die im Wiener Jahrbuch für Philosophie auch veröffentlicht wurde: Es ging um das Thema „Wahrnehmungswelten“, also etwas typisch Menschliches, was Gloy im Kontrast zum Maschinellen abgrenzte. Was war da naheliegender, als mit „Data“ aus Star Trek einzusteigen. Wir erinnern uns, Data – der Androide, der nur eines im Sinn hatte: Er (die Maschine) wollte menschlich werden! Ich kann also sagen, dass mich dieses Mensch-Maschine-Verhältnis immer schon interessierte und Data bot mir anschauliche Gedankenexperimente zur Frage: Was ist das denn –  menschlich? Und was daran ist erstrebens- und damit schützenswert?     

Mit ChatGPT sind wir schneller als gedacht an den „Anfang der Geschichte“ angekommen. Zwar gibt es 2023 noch lang keine Androiden (erste Gehversuche hier oder GPT & Robots), aber die Tür zu einer „disruptiven“ Entwicklung ist geöffnet: Goldgräberstimmung, globaler Wettbewerb, Kapital und endlos viele (hilfreiche wie bedrohliche) Anwendungen. Was braucht man mehr?!

In der aktuellen Diskussion zu ChatGPT im Kontext Bildung (Schule, Hochschule, Corporate Learning) überwiegen die optimistischen Stimmen. Es soll experimentiert werden! Dem folge ich, denn wie sollte man anders die Chancen und Grenzen von der KI im Bildungskontext ausloten? Was wir aber neben Experimentierfreude AUCH brauchen, ist eine Diskussion über Werte. Ehe das als „Spaßbremse“ oder gar als „Blauäugigkeit“ missverstanden wird: Die Diskussion über Werte hat nicht die Primärfunktion, uns vor der „KI zu schützen“ (Bollwerk Werte), sondern darum, worum es Data (s.o.) immer ging, um die Frage, wie wir uns im Zeitalter von KI und (totaler) Simulation als Menschen (!) definieren wollen. „Kreative Originalität“ (nach der jetzt alle rufen) steht zumindest auf dem Prüfstand, wenn man sich die Ergebnisse aktueller KI-Anwendungen in Text, Bild, Video und 3D anschaut.

Gabi hat sich in einem Artikel (Impact Free) dem Thema angenommen. Es ist ein erstes, lautes Nachdenken (zaghaft und tastend also) mit Hochschulbezug. Aber mit der Frage „Wozu sind wir hier?“ macht sie den Anspruch, die Fragerichtung, deutlich. Es geht um Selbstvergewisserung, Grundfragen und vorläufige Antworten. Antworten sehen anders aus, wenn man sie (mit)verantwortet.

Forschendes Sehen, … wir starten blind!

Seit ca. drei Monaten denken wir intensiv in unserem bmbf-Projekt SCoRe über das Forschende Sehen als Spezialform des forschenden Lernens nach. Als erstes Ergebnis ist nun ein Impact Free-Artikel entstanden, worüber ich mich sehr freue [„FORSCHENDES SEHEN“ – EIN KONZEPT UND SEINE MÖGLICHKEITEN]. Darin beschreiben wir erstmals die Spezifika des Forschenden Sehens und kombinieren diesen „Erkenntnisrahmen“ mit den besonderen „Erkenntnismitteln“, nämlich Video und Social Video Learning.

Es überrascht daher, wenn wir – wie im Titel geschrieben – „blind starten“. Hintergrund für diesen verbalen Aufhänger ist der Expertenworkshop „Video“, den wir letzte Woche an der Macromedia-Hochschule Hamburg (MMH) unter Leitung von Andreas Hebbel-Seeger und Team (Marianna und André) sowie unserem externen Videoexperten von der ETH Zürich, Pascal Xavier Schmidt, durchgeführt haben. Im Workshop galt es u.a., im Rahmen eines Arbeitsauftrags zu erkunden, welche Barrieren und Hilfsmittel jemand im Gebäude der MMH vorfindet, der blind ist. Um erste empirische Einsichten zu gewinnen, hatten wir jemanden aus unserem Kreis die Augen verbunden, ihn mit einer wortkargen Begleiterin ausgestattet und dann „einfach mal den Weg zum Professor“ suchen lassen. Man macht sich keine Vorstellung davon, wie offenkundig und subtil Barrieren sein können. Genau diese Barrieren mit Video aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zu dokumentieren, war Teil des Arbeitsauftrags und Teil der „Beobachtungsstudien“, die wir mit dem Projekt anstoßen wollen.

Ich bin sehr froh, dass wir nach den Monaten intensiver Theorie- und Konzeptionsarbeit nun praktische Erfahrungen sammeln, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir ein Gefühl dafür bekommen müssen, was wir Studierenden zutrauen können und müssen. Was mich besonders fasziniert, ist, dass mit der Metapher des „Forschenden Sehens“ ein Rahmen abgesteckt ist, der abstrakte Aspekte der Erkenntnistheorie und der Forschung im Zusammenspiel mit Video (lat. ich sehe) in greifbare und potenziell begreifbare Kategorien überführt, z.B. Beobachterabhängigkeit, Perspektivität, Konstruktivität etc. Am Ende steht wohl auch die Aufgabe, Studierende vom „naiven Sehen“ (und Beobachten) über viele Zwischenstufen zu einem reflexiven Sehen (und Wahrnehmen) zu bringen, was ein wichtiger Aspekt einer forschenden Haltung ist. Und wie immer denke ich bei solchen Sätzen nicht nur an die Studierenden an Hochschulen, sondern auch an die Trainer und Trainerinnen von morgen, für die das Forschende Sehen ebenfalls ein attraktives Ziel sein dürfte.

„Social Video Learning“ im wissenschaftlichen Fokus

„Lass uns doch mal einen Workshop bei der Campus Innovation einreichen“, so Andreas Hebbel Seeger vor ein paar Monaten zu mir in gewohnt heißer Hamburger Umgebung. Ja, und da war er nun, dieser kleine Workshop: Gut 100 Interessierte versammelten sich im Ballsaal des Curio-Hauses, um an unserem eLearning Track „Social Video Learning“ teilzunehmen. Neben uns beiden konnten wir Ruth Arimond aus Luxemburg und Jeanine Reutemann aus Zürich für ein Referat gewinnen.

  • Nach einleitenden Worten von Andreas lag es bei mir, eine Art „Einführung“ in das Thema zu geben [Videovortrag hier]. Ich hatte diesen Auftrag so ausgelegt, dass ich mich etwas systematischer als sonst der Frage zugewendet habe, was Social Video Learning jenseits des technischen Prinzips ausmacht, warum es also in so unterschiedlichen Kontexten wie der Ausbildung von Trainern und Lehrerinnen, Musikerinnen, Führungskräften und Mathematikerinnen funktioniert. Da kann man sich doch fragen: Warum? Die Antworten hatte ich in fünf theoretischen Ankern versucht, wobei ich mich vor allem aus dem kommunikationstheoretischen Inventar (Videomanipulation, Zeichenmix, Elaboration, reflexive Beobachterebenen und Common Ground) habe anregen lassen. Es ist ein theoretischer Anfang und Jeanine signalisierte mir viel „Diskussionsbedarf“, über den ich mich freue.
  • Ruth vom IFEN (Institut de Formation de l’Éducation Nationale) skizzierte in ihrem Beitrag Ausschnitte aus ihrer Doktorarbeit, die eine qualitative Studie zur Förderung von Wahrnehmungs-, Reflexions- und Handlungskompetenz umfasst [Videovortrag hier]. Ausgangspunkt ist ihr spezieller Kontext der luxemburgischen Lehrer- und Lehrerinnenausbildung, bei der im Rahmen eines Blended Learning-Settings neben Social Video Learning auch e-Portfolios eingesetzt werden. Das Ergebnis ihrer Fallanalysen ist vielversprechend: Wenn mit fokussierten (d.h. kriteriumsorientierten) Aufgaben u.a. unter Einsatz von Social Video Learning gearbeitet wird, dann ist eine Steigerung der o.g. Kompetenzen festzustellen! Das macht Laune: zum einem wegen des positiven Ergebnisses im Rahmen einer methodisch kontrollierten Interventionsstudie und zum anderen wegen Ruths Doktorarbeit, die nun in die Endphase geht. Wir drücken die Daumen!
  • Jeanine, Unternehmerin (www.redmorpheus.com) und Wissenschaftlerin (ETH Zürich), ging in ihrem Beitrag eher grundsätzlich auf das Thema der Bildevidenz von Video (VR 360) im Rahmen der wissenschaftlichen Dokumentation und Publikation ein [Videovortrag hier]. Was sie sagt, ist für viele Ohren neu, ungewohnt, teils unbequem, weil sie neben dem wissenschaftlichen Textparadigma selbstbewusst und mit guten Gründen mehr Aufmerksamkeit für das Bild- und Videoparadigma gerade bei der Wissensgenerierung einfordert. Sie sagt: „Text kann viel, aber Video kann auch sehr viel“. Und damit meint sie nicht Video zur „Aufhübschung“ von wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern Video als Mittel der Erkenntnisgewinnung, also als methodischen Kern aller Wissenschaften, die „was zu zeigen haben“. In ihrer 2019 publizierten Doktorarbeit – in der ich gerade nach Schenkung eifrig lese – stolpere ich z.B. über Cetina Knorrs „Viskurse der Physik“, also einen Hinweis, wie das Visuelle die Erkenntnis- und Konsensbildung fördert. Großartig, gerade für eine im Aufbau befindliche Theorie des Social Video Learning.
  • Andreas war es vorbehalten, viele zuvor genannte Aspekte in seinem Vortrag aufzugreifen und anhand unseres BMBF-Projekts SCoRE mit Fokus auf dem forschenden Lernen (siehe hierzu den Vortrag von Gabi und Georg, beides Projektpartner) zu vertiefen [Videovortrag hier]. Gerade dieses Projekt hat es ja aus vielerlei Gründen in sich, weil wir dort (a) das forschende Lernen unter (b) den Bedingungen der Vielen, der Crowd, mit (c) innovativen Videotechnologien im Kontext (d) von Nachhaltigkeit (VAN) untersuchen. Informativ fand ich u.a. die Unterscheidungen von normaler Videoarbeit mit dem Handy (fixed frame) und 360-Grad Video, weil hier die besonderen Lernchancen des 360-Grad-Raums deutlich werden. Man muss sich vorstellen: Wenn man Studierende für das forschende Lernen zur Nachhaltigkeit motivieren will (was eine Herausforderung ist), dann kann es zielführend sein, sie mit einem 360-Grad Video und Headset z.B. „an den Meeresgrund tauchen zu lassen, um dort den Plastikmüll zu sehen“. Explorierendes Sehen und körperlich-emotionales Eintauchen in eine fragwürdige Situation sind hier also der Auftakt für eine Primärreflexion, auf die dann die Ausarbeitung einer Forschungsfrage, das Finden eines Untersuchungsansatzes (ggf. durch Dritte = Crowdmitglieder) folgen sollen.

Wir waren uns einig: Die vier Vorträge haben gut zusammengepasst und wurden durch die Klammer Social Video Learning gut verbunden, denn: Video kann personale Sichten auf Welt „einfangen“ (fixed frame oder 360 Grad); durch Kommentare bzw. Annotationen (= Sichten auf Weltsichten) kann man ein vertieftes, reflexives Verständnis aufbauen, individuell und in der Gruppe; und durch Videokollagen kann man wissenschaftliche Kernaussagen kommunikativ besser sichtbar machen. Vor uns liegen noch viele Fragen: Wie wird diese videobasierte Perspektivenarbeit (mit welchem Erkenntnisparadigma) zur Erkenntnis? Welche Art von Kollaboration können und wollen wir mit Video, Videokommentaren, Videokommentar-Kollagen unterstützen? Wie bekommen wir hin, das Studierende eine Vorstellung vom forschenden Lernen gewinnen, obwohl sie in der Crowd nur einen kleinen Teil eines Forschungszyklus selbständig durchlaufen haben?

All diese Fragen (und unsere vorläufigen Antworten, einer wachsenden Gruppe aus Forschern, Unternehmerinnen, Designern und Anwenderinnen) laufen auf eine spezifische Zukunftskompetenz (future skill) hinaus, wenn man diesen Trendbegriff aufgreifen will, nämlich auf ein „forschendes Sehen“, eine spezifische Form der videogestützten Weltwahrnehmung, und eine designbasierte Verarbeitung und Re-Visualisierung, bei der Kommunikation und Kollaboration der Vielen eine zentrale Rolle spielen. Klingt alles noch sperrig, ich weiß, aber das Neue ist eine Geburt.