Für einen Sportwissenschaftler ist die Beschäftigung mit dem Körper etwas völlig normales, klar, man kann keinen Doppelpass ohne ihn ausführen, er ist grundlegend für medizinische Untersuchungen und für Sport-pädagogen ist Körperbildung ein wichtiger Begriff. Warum beschäftigen sich aber Soziologen mit dem Körper?
Im neuen Buch von Fritz Böhle und Margit Weihrich geht es darum, welche Rolle die „Körperlichkeit und Leiblichkeit in sozialen Abstimmungsprozessen spielen“ und wie man die körperlich-leibliche Dimensionen für eine Theorie sozialen Handelns nutzen kann. (vgl. S. 7.) Ich habe das Buch nun zur Hälfte gelesen, wie gewohnt ausgehend vom Literaturverzeichnis, von der Einleitung zum Abschlusskapitel und noch ein paar Beiträge mittendrin. Ich kann nur sagen: sehr interessant was da steht und für jeden zu empfehlen, der Interesse an Themen hat wie: „kollektive Intentionalität“, „soziale Praxen“, „Situierung“ oder „empraktische Kommunikation“.
Besonders Interessant fand ich den Beitrag von Frau Figueroa-Dreher zu Abstimmungsprozessen im Free-Jazz! Man fragt sich: Wer stimmt hier was und wie ab? Es gibt ja per Definition im Free Jazz keinen Plan, kein vorab definiertes Thema! Free steht irgendwie im Widerspruch zu Plan, oder? Die Autorin sagt hierzu: „Für Free-Jazz Musiker bedeutet es zunächst einmal, sich mit den eigenen Klängen auf die Klänge der anderen zu beziehen“ (S. 202) … dabei spielen Wiederholung (Repitition) und Nachahmung (Imitation) eine wesentliche Rolle in der gegenseitigen „Bezugnahme“ und Musterbildung. Die Spieler stimmen sich also nicht ab zu einem vorab definierten Masterplan, einem Orchesterleiter, der den Takt bzw. eine Ordnung vorgibt, sondern die Abstimmung ist relativ zu jedem Einzelspieler, es geht um den Prozess des Ordnens, wobei das flüchtige Produkt (Musik) ästhetischen Ansprüchen der Spieler selber genügen muss. Fehler oder Mißveständnisse im Abstimmungsprozess müssen dabei keineswegs „ästhetisch wertlos“ sein, … auch ein interessanter Aspekt.
Recht nah an unseren Arbeiten sind die Artikel von der Sozialwissenschaftlerin Stefanie Porschen sowie den Sportpädagogen Alkemeyer/Brümmer/Pille (Pille, cooler Name). Beide Artikel beschäftigen sich mit körperlichen Abstimmungs-prozessen im Bereich der Industrie (Fahrzeugbau, Indistrievorarbeiter etc.), beziehen theoretische Perspektiven z.B. von Bourdieu ein und arbeiten beide mit Videoanalysen, in denen Abstimmung bzw. Koordination durch empraktische Kommunikation und/oder Körpersprache analysiert wird. Praktisch sieht dies z.B. so aus, dass der Vorarbeiter komplimentär zu seinen (unvollständig) verbalen Äußerungen, auf die relevanten Dinge/Objekte zeigt, seinen Körper zur Anschaung des Gemeinten „ins Spiel bringt“ und auch Sprachbilder verwendet. Mit unvollständigen Sätzen ist gemeint: „Wenn hier zum Beispiel kommt diese Federbandschelle hier … kannst du so auch arbeiten oder nicht?… weil du Winkel hast und das ist ja auch.“ (S. 244). Das Gemeinte versteht man wohl erst, wenn man diese Halbsätze in Kombination mit dem Körpereinsatz wahrnimmt. „Wahrnehmung“, überhaupt ein leitender Begriff im Buch, denn den Autoren geht es dabei nicht nur um „Rezeption“, sondern darum, körperliche Wahrnehmung als erkenntnisleitendes Verfahren oder gar als Forschungsmethode (Pieper/ Clenin) zu begreifen.
Fazit: Wer sich neben der diskursiven Koordinierung auch für empraktische Kommunikation interessiert, bei der der Körper eine zentrale Rolle spielt, für den ist das Buch was! Für Medienpädagogen und -Didakiker ist sicherlich herausfordernd, wie ein solcher Körperbezug und die damit verbundenen Koordinationspotenziale mit den digitalen Medien verbunden werden können.