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Metatheorie der Veränderung – Drei Aha’s und ein Autsch

Irgendwann musste ich es tun, da reicht ein Lesen und Studieren im stillen Kämmerlein nicht mehr aus, da sucht man Nähe, Anschauung und Kontakt. Mit 15 Teilnehmern (zehn Frauen / vier Männer) ging es Anfang März in Lenzburg bei Zürich in einer dreitägigen Weiterbildung darum, sich in einer Art Schnelldurchlauf der ‚Metatheorie der Veränderung‘ (MdV) zu nähern. Sarah Besel und Klaus Eidenschink vom Hephaistos-Institut hatten dazu eingeladen, sich einen „Geschmack auf die Zunge zu legen“, wie sie sagten, also in Theorie und ihre Praxis einzutauchen. Die Erwartungen waren also schwindlig hoch, die Zeit knapp und die Temperaturen im Raum lagen oberhalb der 25 Grad-Marke – insgesamt also echt heiß.

Ich möchte meine Eindrücke so schildern, wie ich sie erlebt und im Nachgang – nach etwas Erholung – verarbeitet habe. Das sind im Wesentlichen drei Aha‘s und ein Autsch.

Aha Nr. 1: Die Metatheorie der Veränderung in einem Atemzug

Die kurze Geschichte der MdV lässt sich so erzählen: (A) Den Anfang machen zwei (ontologische) Aussagen über den Zustand oder die Beschaffenheit der Welt: ‚Alles ist im Fluss‘ und die ‚Welt ist zerrissen‘; da klingelt es bei jedem, der schon mal in die Geistesgeschichte hineingeschnuppert hat. (B) Wenn alles fließt, dann ist Veränderung der Normalzustand. Aber: Menschen, die um Hilfe ersuchen, haben Probleme mit dem Festhalten, nicht mit der Veränderung. Deshalb sind die Coaches der MdV auch Experten für Stagnation, oha! Veränderung entsteht aus der Bearbeitung von Stagnationen. (C) Jede Bearbeitung einer Stagnation ist zwingend an Entscheidungen gebunden: keine trivialen Entscheidungen wie ‚gut oder böse‘, sondern komplexe, verdrehte, verwickelte wie ‚gut oder gut‘. (D) Um Stagnationen wahrzunehmen und zu bearbeiten, haben sich in der Therapie und im Coaching ‚Schulen‘ mit vielfältigen Methoden und unüberschaubaren Methodenspielarten entwickelt, die Gleiches unterschiedlich und Unterschiedliches gleich bezeichnen. Die MdV fasst diese Vielfalt in genau acht Aktionsfelder, genannt Leitunterscheidungen, zusammen, und zwar so, dass an der Oberfläche generische Begriffe und keine (trennenden) Kunstwörter zu finden sind (Bewusstsein, Selbstverantwortung, Verstehen etc.). Zu jedem Aktionsfeld kommen zwei komplementäre Ausprägungen hinzu, welche mögliche Veränderungsrichtung anzeigen, die je nach Kontext und Zeitpunkt funktional oder dysfunktional sein können (Achtung, Luhmanns Systemtheorie). In diesem Sinne ist die MdV ‚ganzheitlich‘, wozu auch gehört, dass sie von Wertungen und Normen befreit ist; ein Beobachten der eigenen Blindheiten von Coaches oder Schulen ist dadurch möglich. (E) Schlüsselorte für Stagnationen sind Bedürfnisse; die MdV macht auch hier aus der Vielzahl der in der Literatur vorhandenen genau drei Spannungspärchen (Nähe-Distanz, Freiheit-Sicherheit, Einzigartigkeit-Zugehörigkeit). Soweit mal die Idee in einer Nussschale, das ist das nackte Instrumentarium, nicht die Operation!

Aha Nr. 2: Die Welt ‚ist‘ nicht, sie ‚passiert‘

Die MdV, wie sie hier stark verkürzt wurde, ist eingebunden in eine uralte Denktradition: Seit Aristoteles weiß man, dass alle ‚Veränderung‘ oder das ‚Werden‘ durch zwei komplementäre Formen bestimmt wird: Energeia und Entelechie. Während Energeia dem physikalischen Energiebegriff entspricht und nach Ursache-Wirkung (Wirkursache) funktioniert, steht Entelechie für die ‚Verwirklichung einer Möglichkeit‘ (Zielursache). Während Energeia in der Moderne eine Erfolgsgeschichte geworden ist, steht Entelechie (wie ein Entlein) zu Unrecht im Schatten. Erst die Quantenphysik im 20. Jahrhundert machte wieder darauf aufmerksam, dass die Relativitätstheorie nicht das Maß aller Dinge ist, sondern im Subatomaren andere Gesetze gelten. Das Elementarteilchen sei weniger ein Teilchen, sondern eher ein ‚Passierchen‘, dass sich je nach Beobachtung ‚entscheidet‘, an welchem Ort es wahrscheinlich auftaucht, eben ‚passiert‘. Wenn ich all dies richtig verstanden habe, fußt die MdV auf dem Gedanken der Potenzialität von Wirklichkeit, die sich durch Beobachtung beeinflussen lässt, weswegen begriffliches Hinsehen und körperliches Hinspüren so wichtig sind. Zumindest gilt aber: Die MdV versteht man nur richtig, wenn man sie in diesem weiten Rahmen aus Naturphilosophie interpretiert (Aristoteles, Heisenberg, Weizäcker, Dürr und Konsorten), wo dann auch der Begriff der ‚Seele‘ seinen Platz hat.

Aha Nr. 3: Theorie in Aktion, die Form macht’s!

Wir sind uns alle einig: Eine Theorie, die kein Rüstzeug für eine komplexe Praxis bietet, ist bestenfalls nutzlos. Deshalb ist die MdV so, wie sie ist, mit den Leitunterscheidungen, die komplementären und wertebefreiten Ausprägungen und dem philosophischen Hinter- und Untergrund, der hier nur angedeutet wurde. Und ja, die Bearbeitung von menschlichen Stagnationen ist komplex. Komplex heißt: Es kann auch plötzlich ganz anders kommen, unerwartet, überraschend, wie aus dem Nichts, ‚Passierchen‘ halt. Da gibt’s keine richtige Planung, aber doch ein Vorbereitet-SEIN. Ich war also sehr gespannt, wie die Theorie in Aktion funktioniert, was ich davon sehe oder wahrnehme. Zur Anschauung hatte Klaus Eidenschink eine Teilnehmerin gewinnen können, mit ihm eine kleine Coachingübung zu durchlaufen. Zwei Stühle, zwei Menschen, die sich anschauen. Es folgten 45 Minuten ‚Coaching‘. Nur in der ersten Minute versuchte ich zu raten, auf welchen Aktionsfeld Klaus Eidenschink gerade seinen Schwerpunkt legte. Dann schob ich das Schaubild beiseite, lehnte mich zurück und beobachtete nicht den Coach mit seinen schwindligen machenden Einzelaktionen … einfühlsam sprechen, hartnäckig Entscheidungen einfordern, eigene Gefühle spiegeln, Gesichts- und Körperausdruck interpretieren, leichte Berührungen am Körper, Rollen- und Instanzenspiel mit Stuhl … sondern eher die Form: Im Instrumentarium der MdV war er ‚überall‘, ‚gleichzeitig‘, was man im Kurs auch als „oszillierend“ bezeichnete. Diese Oszillation ist Theorie in Aktion, eine unsichtbare Gleichzeitigkeit der Aktivierung von unterschiedlichen Potenzialitäten mit je einem sichtbaren Handlungsfokus … so, wie wenn man viele Bälle in der Luft hält (und die Form schielend beobachtet), aber nur einen Ball berührt –schwierig zu beschreiben, wie alle Spiele IN Aktion. Es ist in jedem Fall eine Kunst, langjährig erarbeitet, in unendlich vielen Sitzungen. Leichtigkeit ist ein Produkt intensiver Arbeit, so ist das nun mal. Und, hilft jetzt die MdV dabei, sich vom Novizen zum Könner zu entwickeln? Ja, denn im Modell ist die Struktur angelegt, quasi das Fahrrad mit all seinen Bauteilen. Das muss nun jeder selbst nehmen und lernen, es zu ‚prozessieren‘. Die MdV ist genau keine Beschreibung der physikalischen Gesetze, sondern sie bietet hilfreiche ‚Prinzipien‘ wie diese, dass man beim Fahrradfahren den Blick auf den Horizont halten muss (während dessen man teils Widersprüchliches wie X, Y, Z gleichzeitig tut), wenn man nicht das Gleichgewicht verlieren will.    

Autsch: „Frank, lass alle Hoffnung fahren!“

In der Weiterbildung gab es mehrere praktische Beispiele, die durch die Leitung lebendig ‚inszeniert‘ wurden: Coaching, Rollenspiele, Experimente. Der gemeinsame Kern dieser Beispiele ist, dass wir überall ‚Übergriffigkeit‘ erleben; der Chef, der in den eigenen Kompetenzbereich hineinregiert, der Freund, der sich Nähe trotz Distanzwunsch nimmt, die Mutter, die auch noch mit 65 Jahren sagt, wo es bei der Tochter langgeht … und TikTok macht den Rest. Wie selbstverständlich räumen wir ‚soziale Normen‘ (Chef helfen, kameradschaftlich sein, Mutter achten) ein absolutes (!) Primat gegenüber individuellen Bedürfnissen ein: Wir nehmen diese dann nicht wahr, relativieren sie mit Scheingründen, sprechen sie nicht klar aus oder verteidigen sie nicht kraftvoll. Ich sage: „Da muss man doch was tun! Was läuft denn da schief in Schule, Hochschule, Beruf und sozialen Medien?“ Noch ehe ich mich weiter in Rage rede, kommt dieser Satz von Klaus Eidenschink: „Frank, lass alle Hoffnung fahren.“ Stille im Raum und ich innerlich ‚oben auf‘. In den Folgetagen macht mir dieser Satz zu schaffen, ich denke nicht nur an die Frauen in Afghanistan. Ja, ich kenne Luhmanns Satz, dass wir fast nix ändern können, ich kenne die Weisheit, sich in Absichtslosigkeit zu üben und Erwartungen ‚bei sich‘ zu halten, in schlimmen Fällen auch Ohnmacht zu akzeptieren. So schafft man es, gut durch die Zeit zu kommen. Doch wo hört diese Philosophie auf und wo fängt politisches Engagement oder Zivilcourage an? Klima und Frieden sind ehrenwerte Ziele, denen man sich mit Haut und Haar verschreiben kann. Der Weg mit ihnen kann ungemein erfüllen, aber sie enttäuschen auch, mit Sicherheit! Ich vermute mal: Die MdV will Menschen in Not helfen, dafür ist sie gemacht. Sie ist keine politische Bildungstheorie – will sie nicht sein –, bei der Menschen mit der Idee konfrontiert werden, gesellschaftliche Verantwortung zu ‚tragen‘ (Menschenrechte etc.) Man muss wohl aber auch kritisch zugestehen, dass eben diese ‚normativen‘ Bildungstheorien Gefahr laufen, faktisch wenig Impact zu erzeugen, was ich erstmal als Arbeitsthese hier stehen lasse. Vielleicht könnten die Bildungswissenschaften von der MdV lernen, nicht nur, was die Handlungsregulation angeht (Empowern), nicht nur von der Werthaftigkeit der Wertefreiheit, nicht nur von der systemtheoretischen Denke in Funktionen und Prozessen, sondern auch von der Art der Theoriekonstruktion, die mindestens disparate Schulen in ein Gespräch bringt.    

Fazit: Ich mache es kurz. Die MdV ist „brillant“ (Zitat: Gunther Schmidt), aber vielleicht auch ‚elegant‘, weil sie so viel mit so wenig, aber Zentralem, ausdrückt und ich Menschen gesehen habe, die das so kraftvoll und schön praktizieren. Ich glaube, ich brauche jetzt Abstand. Nicht, weil ich das Erlebte nicht weiter anziehend finde, sondern weil ich jetzt mal in die Eigensteuerung kommen muss.

Danke Sarah, danke Klaus für liebevolle und tief informierte Impulse, für einen Geistesrahmen, der einen trägt, gerade weil er anspruchsvoll ist. Oder für die, die dabei waren: Menschen sind keine Fußbälle.  

PeaceClubs: Da spricht ein Träumer, oder?

Gestern hatte ich durch Zufall Kontakt mit meinem zukünftigen, etwa fünf Jahre älteren Ich. Dieser Frank fragte mich eher beiläufig, ob ich damals, 2025, etwas zur politischen Zeitsituation gesagt habe. Ich überlegte und musste dann zugeben, dass ich nichts, also wirklich gar nichts getan hatte: aus Unsicherheit, aus Überforderung, aus Fantasielosigkeit, aus Angst, … Angst vor was? Es gab gefühlt 101 Gründe. Beschämt über mich kam ich zurück ins Jahr 2025, habe diesen Artikel geschrieben und zumindest eine Unterschrift geleistet. Ahoi!

Dieser Post wird keine Likes erzeugen … aber anfangen muss man doch!

Ende 2023 habe ich in einer kleinen Runde erstmals von „PeaceClubs“ gesprochen. Der Idee nach ging es um Orte für junge Menschen (auch die Alten können jung sein und die Jungen unglaublich alt), die sich z.B. im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres, mit der Idee des Friedens, seiner Voraussetzungen und seiner praktischen Durchsetzung befassen sollen: in einem Dorf, einer Stadt, in einem Bundesland, landesweit und vielleicht auch in und über die EU-Grenzen hinaus. Damit das nicht in einer Art „Friedenszirkel“ mit beschwörenden Räucherstäbchen ausartet, sollten diese Clubs (a) nicht nach dem heiligen und ewigen Frieden, sondern nach Möglichkeiten der Konfliktreduktion bzw. Konfliktregulation (Realziel) suchen, (b) dabei u.a. die anspruchsvolle Herausforderung rund um „soziale Dilemmata“ in den Blick nehmen und (c) nicht nur debattieren, sondern auch praktische (Zwischen-)Lösungen in Form von „Werken“ fabrizieren. Diese Werke sollten so niederschwellig und einladend sein, dass fast jeder Mensch sagen könnte: „Da kann ich im Prinzip – wenn ich meinen Hintern hochkrieg – mitmachen!“ Zwar sind damit die Großdebatten (wir brauche eine „neue Gesellschaft“ oder gar einen „neuen Menschen“) nicht ausgeschlossen; doch zumindest ein klitzekleines Problem dieser Welt sollte besser werden, wohlwissend, dass andere Probleme janusköpfig damit wieder entstehen. Alles, einfach alles hat seinen Preis! Soweit mal, … die Idee liegt seitdem auf meinem Schreibtisch und reift wie ein Schweizer Käse.

Das mit dem „Frieden“ fiel schon 2023 für mich nicht vom Himmel.

Ich bin aufgewachsen in einer Gastronomie-Familie – mit einer Gaststätte, die 1933 gegründet wurde. Im „Deutschen Haus“ kamen in der 1990ern u.a. Kriegsveteranen zusammen (damals alle um die 70 Jahre alt), die sonntags nach der heiligen Messe am Stammtisch Erinnerungen austauschten. Es gehört zu meinen persönlichen Theken-Erfahrungen, dass Anwesende regelmäßig bittere Tränen weinten. Sie berichteten dann u.a. vom Russlandfeldzug, vom großen Leid und wie sie ihre Freunde im Schnee zurücklassen mussten. Diese emotionalen Ausbrüche kamen also 50 (!) Jahre später noch wie aus dem Nichts herausgeschossen, was viel über seelische Wunden und Spätfolgen von Kriegen verrät. Solche Szenen endeten dann mit der Mahnung: „Nie wieder Krieg, unter keinen Umständen, hört ihr!“. Alle am Tisch schwiegen daraufhin und mir kroch dieses „stille Schweigen“ als junger Mann tief in die Knochen.  

Neben diesen Kriegsgeschichten gibt jetzt noch eine Reihe weiterer „Erfahrungen“, die in diese Richtung gehen: Der ohrenbetäubende Knall einer Handgranate, die ich als junger Funker bei der Bundeswehr werfen musste; die olympische Friedensbotschaft zum „gegenseitigen Respekt“ eines Pierre de Coubertin, die ich als Mitarbeiter an der Sporthochschule Köln erstmals mitbekam; die systemtheoretisch inspirierten Schriften von Sven Güldenpfennig, mit der Friedensmahnung, dass man im Sport „nur“, aber immerhin (!), lernt, trotz stärkster körperlich-emotionaler Grenzerfahrungen (z.B. Boxen, voll auf die Fresse) regeltreu zu bleiben; oder schließlich der gesellschaftliche „Friedensdienst“ zur Stärkung des Ehrenamtes im Sport durch Digitalisierung, den ich als Berater über fast zwei Jahrzehnte begleiten durfte.

Und? Was soll das jetzt, dieser lange Anlauf?

In einer Zeit, in der die Nachrichten von kriegerischen Übergriffen, Bombardements, Drohneneinsätzen, getöteten Männern, Frauen und Kindern nicht abreißen, Kinder diesseits und jenseits der Grenze, die Unschuldigsten auf beiden Seiten also, in der man sich im Zeichen der Zeitenwende darauf eingeschworen hat, Waffenlieferungen „immer mehr“ und Sanktionen „immer stärker“ seien die Mittel der Wahl, um Frieden zu sichern – eine Zeit, in der man als einfacher Mensch immer schwerer ein Argument findet, zu dem nicht auch ein gleich schweres Gegenargument passt, in der das Nachdenken und öffentliche Sprechen über Frieden als naiv disqualifiziert werden – wie sicherlich auch hier; eben in dieser Zeit ist es wichtig, über Frieden in wirklich all seinen Dimensionen (!) (im Zusammenhang auch von Klima, Armut, Wohlstand etc.) nachzudenken und nachzuforschen, darüber zu sprechen, um mögliche Schweigespiralen zu durchbrechen und idealerweise auch etwas Konkretes zu tun, auch dann, wenn dieses Tun zunächst keinen sichtbaren „Impact“ hat.

Ich ende heute mit einem konkreten Vorschlag, sich zumindest das einmal anzusehen: Das SPD-Manifest mit einer Friedenstaube im Logo ist KEIN Aufruf zu einem „reinen“ Pazifismus, wie ihn im Übrigen Albert Einstein vertreten hat. Auf den zwei Seiten geht es um eine Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent, mit all jenen, die hier leben und zusammenleben müssen. Es geht in diesem Manifest um die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit ohne fixe 5% Bindung und es geht um radikale Dialogbereitschaft, auch dann, wenn damit Nachteile verbunden sind.

Ich habe das Manifest unterschrieben, auch wenn man den Menschen, die das tun, „Realitätsverweigerung“ (Pistorius) vorwirft. Apropos Realität: Ich weiß, dass die klügsten WissenschaftlerInnen der Welt darüber streiten, wie man Realität überhaupt feststellt und noch mehr darüber uneins sind, was man tun muss, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ich bin also in guter Gesellschaft, ich bin unsicher und gerade deshalb muss man anfangen.

Friedensarbeit hat eine lange Inkubationszeit.

Context Counts

Kürzlich war ich zu Besuch in einer Kleinstadt im schönen Oberbayern. Der Abend wurde zufällig frei, weil meine Freundin dort nicht konnte. Also, was machen, in einer „Kleinstadt“? Da der Tag anstrengend war, fiel die Wahl auf Sauna; Entspannung ist ja immer gut. Fußläufig vom Bahnhof gibt’s eine Art Yogakurs-Fitness-Massage-Sauna-Physiotherapie-Center, also etwas von allem, für alle.

Pünktlich um 19 Uhr rief der Saunameister „Aufguss jetza!“ Es versammelten sich ca. zehn Personen im Alter zwischen 40 und 65, keine Fitnessmädels oder Muskelmänner, sondern Normalgewachsene wie du und ich. Man sitzt kuschelig hier in Bayern, man kennt sich. Als der dickbäuchige Saunameister die Tür von innen schließt, geht ein wohlwollendes Lächeln durch die Runde, als ob ein Programm beginnt. Ich selbst, Hamburger Ausländer mit Sauerländer Zungenschlag weiß von nix.

Nun folgt etwas, was ich dem Internet nur in Andeutungen anvertrauen darf. Der besagte Saunameister steht inmitten der Saunisten, sein Bauch ist 50 cm vor meinem Gesicht. Das Gesamtprozedere ist rein äußerlich durch drei Aufgüsse organisiert. Es beginnt mit: „I’hab eich bissl kristl-med mitgebracht, woos füers näsle“, er meint Duftkristalle mit Eukalyptus, die er auf die heißen Steine streut und mit einer dicken Wasserkelle beschüttet. „Kennt ir den?“ … fragt er auffordernd. Ohne auf die Antwort zu warten, fährt er mit einem Witz, oder besser mit einer Witzsalve, fort. Die Witze enthalten alles, wirklich alles, was auf der roten Liste steht oder was man aus Wirtshausszenen kennt: Wilde Sexualpraktiken, Chauvinistisches, Behinderungen aller Art, diese Ausländer … die Liste ist lang. Jeder Witz wird vom Publikum mit einem lauten Lachen honoriert. Ich mittendrin, synchronisiere mich mit dem Lachen, um nicht aufzufallen.         

Unweigerlich denkt man: Saunen in Bayern sind das Letzte! Zur Ehrenrettung sind nun drei Elemente wichtig: Es handelt sich hier um ein eingespieltes Team, Sprecher und Zuhörer befriedigen ihre Erwartungen, keiner wird verletzt. Im Raum sind echte Ausländer, die im gebrochenen Deutsch Witzfragmente lachend wiederholen oder eigene Interpretationen anschließen. Ich wette, keiner hier in der Sauna ist „da draußen“ diskriminierend oder ausgrenzend oder im Sprechen irgendwie billig. Das, was IM Raum „gespielt“ wird, ist nicht mit Maßstäben zu betrachten, die außerhalb des Raumes als ethisch korrekt gelten oder zum guten Ton und Umgang gehören.

Wie geht man jetzt mit sowas um? Die erste Variante ist die, dass einem das alles wurscht ist. Punkt. In der zweiten Variante regt man sich schrecklich auf, weil so etwas, egal wo, einfach nicht geht (Universalmoral). Die dritte Variante akzeptiert Sonderräume, in denen die Universalmoral „auf Zeit“ außer Kraft gesetzt ist (sie gilt weiterhin, nur eben draußen) und eine andere Moral leitend ist, die eben das Spiel dieses Sonderraums regelt. Das kann dann zu einer Art A-Moral führen, die aus gesellschaftlicher Perspektive verwerflich, für die Beteiligten aber hochfunktional ist.

Und, darf man das nun, über sowas lachen? Ich denke ja, rein pragmatisch, weil wir sonst alle Saunen in der Republik schließen könnten, denn auch anderswo geht es fröhlich zu. Aber eben auch, weil eine Gesellschaft nur durch solche kulturellen Sonderräume funktioniert. Das gilt im Großen, wenn wir uns die „böse“ Wirtschaft oder den „verschwenderischen“ Theaterbetrieb oder den „unmoralischen“ Sport anschauen oder im ganz Kleinen, in der Sauna, in der Menschen über Dinge gelacht haben, die ihnen draußen, im echten Leben, zu Recht die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Context Counts.

„Leben ist Töten“ … Nahaufnahme eines Redners

Eher durch Zufall war ich im März auf der Internationalen Tagung der Erich Fromm Gesellschaft, die in Bad Marienberg den 125. Geburtstag des Namensgebers feierte. „Fromm“, die Älteren erinnern sich: Die „Kunst des Liebens“ sowie „Haben oder Sein“ waren Büchlein, die man in der Jugend pflichtgemäß las oder verschlang, je nach Einstellung.

Anlass und Grund dieser Reise war kein aufflammendes Fromm-Interesse, obwohl die Zeiten danach schreien, sondern ein Vortrag von Klaus Eidenschink, der dort als Redner aufgeführt war. Für alle die es nicht wissen: Eidenschink ist ein „Wanderer zwischen den Welten“, Coach und Coach-Ausbilder mit eigenem Institut in München, von Haus aus Theologe, seit Jahrzehnten aber in Systemtheorie und Psychologie (und weiteren Hilfswissenschaften) zuhause. Von ihm stammen Bücher wie „Die Kunst des Konflikts“ oder „Entscheidung ohne Grund“ oder das „Verunsicherungsbuch“, die alle mit Gewinn lesen können, die mit Menschen zusammenarbeiten und dafür Verantwortung tragen. Ich denke man kann ihn als Meta-Theoretiker des Coachings (er hat eine eigenen Metatheorie zusammengestellt) oder intellektuellen Provokateur bezeichnen, der gern mal den psychologischen Mainstream gegen den Strich liest, … und schaut was passiert.  

Nun also Eidenschink – erstmals live vor meinen Augen – morgens 09.00, erstes Referat, Titel „Die Anatomie konfliktdynamischer Destruktivität“. Im ersten Teil ging er auf das Thema Konflikt ein: Was ist das? Wie entsteht er? Aber auch eher beiläufig, … „warum ich nicht vom Frieden rede.“ Man merkte schnell, Systemtheorie, Luhmann, gar nicht mal im komplizierten Sprechen, sondern im klaren Denken, neutral beschreibend, kein Evangelium, sondern zweiwertigen Pole, um zu sehen, was der Fall ist, ehe man interveniert. Weil die ZuhörerInnen für gewöhnlich in ihren Denkbahnen verharren – kopfnickend, zustimmend – zwischendurch kleine Bomben wie: „Leben ist Töten“ oder „Konfliktfreie Kommunikation, da halte ich nix von“. Solche Sätze „sitzen“, wir sind auf der Erich Fromm-Tagung, das Publikum seit Jahrzehnten geschult in allen Friedenstechniken und Konfliktvermeidungshaltungen 😊. Bricht der Widerstand offen zutage, ist Eidenschink hellwach und schnell dabei, die Stelle zu kitten, nicht durch eine Beschwichtigung, sondern z.B. mit dem Hinweis, dass jede Entscheidung eben AUCH Möglichkeiten ausschließt oder im Bild: Wenn der Zen-Meister durch den Tempel geht, tötet er Milben. Jedwedes Handeln hat Folgen und Nebenfolgen und damit auch das – gerade das –, was mit guter, friedlicher Absicht geschieht. 

Was mir bei Eidenschink gefallen und warum sich die Anwesenheit gelohnt hat: Dieses eigentümliche Sprechen mit einer inneren Leinwand, die Augen nach oben gerichtet, entrückt, aber bei sich, mit beiden Händen nach etwas greifend und jonglierend. Eine Sprechsequenz geht in etwa so: (1) Luhmannischer Einstieg, für den Ungeübten immer etwas befremdlich, z.B. „doppelte Kontingenz“, schwer zugänglich, bestenfalls hat man eine Ahnung. (2) Dann das Entgegenkommen mit einer bekannten Redewendung, bei ihm im bayerischen Grundton, in der das Gemeinte intuitiv anschaulich wird. (3) Jetzt ganz beim Publikum, ergänzend und mit Humor vorgetragen noch eine Art schauspielerischer Szene, z.B. „Frau kläfft, weil Mann ins Wirtshaus geht“, an der dann wieder etwas Abstraktes wie „zirkuläre Kausalität“ erklärt wird, … das Lachen im Publikum geht dann fließend in ein Nachdenken über: Abstraktum, Redewendung, Spielszene vermischen sich zu einer sinnigen und sinnlichen Figur. Ende der Sequenz, Ende der Beobachtung.  

Qualitätsgetrieben

Am Freitag (21.03.) habe ich wieder einmal einen Vortragsimpuls beim Referent*innen-Team des Deutschen Fußball-Bundes (#DFB) am schönen Campus in Frankfurt gegeben. Es ging darum, wie man Phasen von Lehrprojekten (z. B. Planung, Durchführung, Reflexion eines Lehrgangs) begleitet und wie man das mit wissenschaftlicher Brille begründen kann. Entsprechend spielten #Situierung und #Didaktik eine große Rolle (so wie es im Übrigen auch in der Schweizer Berufsbildung #EHB geschieht). In der anschließenden Diskussion in der Runde der Ausbilder*innen wurde deutlich, dass Qualitäts- und Ressourcenfragen immer unter Spannung stehen. Man muss hier also offen darüber sprechen, was unter ehrenamtlichen (!) Bedingungen möglich, wünschenswert und machbar ist.

Dennoch: Es ist für mich immer wieder erstaunlich, was das DFB-Referent*innen-Team da „an Qualität“ auf den Weg bringt: ein aus Kompetenzsicht anspruchsvolles und fußballspezifisches Konzept (#DOSB-Kompetenzmodell, DFB 4-Klang), ein Blended-Learning-Format, in dem synchrone und asynchrone Aktivitäten via DFB-Online-Campus (edubreak) gut zusammenspielen, mit selbstgesteuerten Phasen und kriterienbasiertem Feedback von Coaches, bei dem Social Video Learning selbstredend nicht fehlen darf.

Ich sage mal so: Kein anderer (mir bekannter) Verband ist so „qualitätsgetrieben“, zumindest in der Ausbildung von Ausbilder*innen. Ich war erstmals unter meiner neuen Flagge „DIDAKTIKBÜRO Hamburg“ dort, aber ich habe das Gefühl, dass es den Menschen wurscht ist, wie ich mich beflagge. Sie sagen: „Frank, wir sind froh, dass du da bist.“ Damit kann man mit leben, oder?

20 Jahre Ghostthinker :-)

Anfang März 2005 habe ich die Ghostthinker GmbH gegründet (genau am 02.03.2005 war die Eintragung im Handelsregister beim Münchener Amt) – jetzt ist Ghostthinker 20 Jahre alt geworden. Daran faszinieren mich, als immer noch Gesellschafter, mehrere Dinge: Zum ersten bewahrheitet sich, wie rasend die Zeit vergeht – 20 Jahre, fast ein Vierteljahrhundert! Zum zweiten zeigt sich, dass „Unternehmertum in Deutschland“ möglich ist, auch in steilen Bereichen wie Education & Technology. Und drittens beglückt mich, dass sich in der Sportbildung (Trainerinnen und Trainer u.a.) ein anspruchsvoller und begründungsbedürftiger Kompetenzansatz (mit Social Video Learning als Kern) behaupten konnte, entgegen vielen Widrigkeiten (leichter, billiger, schneller geht’s scheinbar immer). 2025 haben 60.000 SchiedsrichterInnen des Deutschen Fußball Bundes (vgl. Schiri-Zeitung) „Ja“ zu edubreak gesagt, denn edubreak ist nicht eine nackte Technologie, sondern eine technologiebasierte Didaktik mit eingebetteter Beteiligungskultur: Beteiligung ist intensiv, soziale Beziehungen brauchen Zeit, mentale Anstrengungen bedeuten Schweiß, aber man bekommt auch viel und für den TrainerInnen-Job Wesentliches zurück. Wichtig ist, was langfristig unterm Strich herauskommt, der Social Impact. Wer heute so denkt, wird entweder schief angeschaut oder gefeiert. Heute kann gefeiert werden. 

Ich bin kein Repräsentant

Ich habe eine Reise nach Berlin hinter mir. Anlass war eine „Erkundungsaufstellung“ zu „Inner Work“, die von Prof. Georg Müller-Christ und Dr. Josef Merk angeboten wurde. Ich kenne Georg (nach einem gemeinsamen F&E-Projekt) und seine Aufstellungsarbeit nur aus der Ferne, also via seiner LinkedIn-Beiträge und aus einer Online-Session, in dem ich das Grundprinzip nachvollziehen konnte. Ich selbst bin also erfahrungsfrei; das sagt man, wenn man von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, aber genau in dieser Unbeschriebenheit eine Ressource für den Tag sieht.

In einem großartigen (aber unangestrengt lässigen) Loft am Berliner Ostbahnhof ging es mit ca. 20 Personen – wir waren 3 Männer – in den Tag, der durch wenige Slots grob gegliedert war. Gestartet wurde mit einem „Check-in“, bei dem jeder/jede – nach einem kurzen Austausch mit dem Sitznachbarn – die eigene Erwartung sagen konnte. Ich war kurz: Ich wollte eine Erfahrung machen, die mich aus der Bahn wirft, also Bahnbrechendes 😉.

Ich überspringe jetzt mal die einleitenden Impulse durch Josef und Georg und komme gleich zur ersten Erkundungsaufstellung, und die ging so: Vier Personen, die sich freiwillig meldeten, verließen den Raum, so dass sie nichts hören und sehen konnten. Währenddessen erklärte uns Georg inmitten einer großen Stuhlkreisfläche, dass es vier Rollen gibt (Angestellter weiblich, Angestellter männlich, Führungskraft weiblich, Führungskraft männlich), die mit den Buchstaben A-D symbolisiert und wiederum durch ein Schild visualisiert werden. Zudem war im Stuhlkreis ein Stuhl mit der Zahl „1“ und räumlich gegenüber einem Stuhl mit der Zahl „2“ eingeschoben; die Zahlen symbolisierten die leitenden Zwecke bzw. Handlungsmotivationen im Unternehmen, nämlich Fremdbestimmung und Selbstbestimmung. Schließlich wurden, ebenfalls symbolisch, vier Kontexte unterschieden, in denen die Akteure durch verschiedene „Reifegrade“ an Inner Work einen Unterschied machen sollten. Nun wurden die vier Personen von draußen in den Stuhlkreis geholt. Jeder der Vier konnte sich einen Buchstaben schnappen und gut sichtbar an den Oberkörper hängen. Vor mir im Stuhlkreis waren also vier Personen mit Buchstaben zu sehen und links und rechts stand je ein Stuhl mit der Zahl 1 und 2. Soweit zur Struktur.

Die Erkundungsleitung (EL) forderte die „Repräsentanten“ (R) auf (das waren die Personen mit den Buchstaben, weil sie verdeckt Rollen repräsentierten), sich im Raum zu positionieren, so dass es für sie „passend“ sei. Die „R“ positionierten sich. Die EL stellte daraufhin Fragen, die „R“ Aussagen zur Positionierung ablocken sollten. Dieser Prozess wurde mit Kontext zwei und Kontext drei wiederholt, was u.a. zu veränderten Positionierungen im Raum und Äußerungen der R führte. Bevor Kontext vier erkundet wurde, sollten alle R die Kreisfläche verlassen und dann mit „kollektiven Inner Work-Bewusstsein“ (was das genau war, blieb offen, aber wohl eine Art von gemeinsam gelebter Inner-Work-Praxis) erneut eine Position im Raum suchen und eine Aussage dazu machen.

Was wir da sehen konnten, war ein komplexes, zumindest aber vielschichtiges Zusammenspiel aus R (mit verdeckten Rollen), mit Stühlen als Bezugspunkten (verdeckte Handlungsmotivationen) und je verschiedenen Kontexten (offene, d.h. bekannte Bewusstseinsgrade zu Inner Work) – es war eine „Simulation im Raum“, was vor allem Gleichzeitigkeit und Situierung, aber eben auch „Sichtbarmachung von Verdecktem und Verborgenen“ bedeutet. 

Um sich das, was sich da „gezeigt hat“ (nicht gezeigt wurde!), zu deuten, gab es im Anschluss Kleingruppenarbeit, bei der man zunächst das Gesehene neutral beschreiben sollte: z.B., „dass die beiden Führungskräfte auffällig oft in der Nähe der Stühle gestanden oder gesessen sind oder dass der männliche Angestellte auffällig oft in der Zwischenposition von Stuhl 1 und 2 war.“ In einem zweiten Schritt sollte man diese Deutungen erweitern, indem man Sätze mit „könnte“ (Konjunktiv) formulierte, die darauf abstellten, „mögliche Optionen zu erkunden“. Da war also der Kern, worum es ging oder besser, was ich verstanden habe: Nicht sichtbare oder übersehene oder für unwahrscheinlich gehaltene oder gar emotional abstoßende Optionen von Rollen-Motivation-Kontext-Mustern entspannt in den Blick zu nehmen, als eine neue Möglichkeit von Wirklichkeit.

Ich will in diesem Beitrag jetzt nicht um den Nachmittag ergänzen, bei dem ich selbst „Repräsentant“ war, zwar in einer ganz anderen Übung, aber immerhin. Es wird sonst hier zu lang. Vielmehr komme ich jetzt zu dem, was ich aus dem Tag mitgenommen habe.

In der großen „Abschlussrunde“ – heute Check-out – war man sich einig: Fast alle fühlten sich reich beschenkt, mit Impulsen für die eigenen Arbeit, mit mehr Motivation und Klarheit, und verabschiedeten sich mit Dank an alle Anwesenden für Offenheit und Gespräche. Ich sagte „fast alle“. Ich war der Einzige, der andere Erfahrungen gemacht hatte, nichts Bahnbrechendes, wie anfangs erwartet, aber von so einem hohen Ross kann man auch nur runterfallen. Um es vorwegzunehmen: Der Tag war professionell organisiert, die Impulse originell und informiert, die Gespräche aufschlussreich. Es hat sich also gelohnt, zumal die Tagungskosten von unter 200 € eher im Bereich des Ehrenamtes liegen. Zu dieser Bilanz gehört aber auch, dass ich jetzt mehr Klarheit darüber habe, was ich nicht will: Inner Work mit Erkundungsaufstellung. Der Hauptgrund der Nichtpassung für mich ist, dass der Körperleib zu wenig zur Sprache kommt, seine Sprache, eine spezifische Wahrnehmung, die wir im Nachgang denkend erfassen können, wenn es gut läuft, wenn nicht, ist es auch gut, vielleicht sogar besser. Ich erkenne zwar das heuristische Potenzial der körperinduzierten Symbol- und Unterscheidungsarbeit via Repräsentanz und Metakognition zur Erweiterung des Möglichkeitsraums, denn das ist, was ich unter Erkundungsaufstellung verstehe, aber für meinen Kopf ist das zu viel Symbol, Stellvertretung und externer Verweis, zu viel Denken über Denken. Wahrscheinlich suche ich nicht nach einem Mehr an Erkenntnis, sondern nach anderen Formen der Resonanz, nicht nach wahrem oder nützlichem Wissen, sondern Formen des Gewahrwerdens, die mir (und anderen) neue Denkmöglichkeiten, Selbstzugänge und Handlungsweisen zeigen und erlebbar macht.

Prä-emphatische Zusammenarbeit: Zustimmung und drei Thesen

In meinem letztens Blogbeitrag hatte ich die „Prä-empathische Zusammenarbeit“ von Jöran Muuß-Mehrholz etwas einsilbig aufgegriffen, was dem Züricher Gesamteindrücken geschuldet war. Nun also nochmal etwas ausführlicher.

In einem aktuellen Blogbeitrag beleuchtet Jöran unterschiedliche Aspekte der „Zusammenarbeit“. Dabei geht es ihm darum, nach den großen Superlativen (McKinsey sagt’s) und kleinen Anleitungen (Hacks & Tipps) ein „Mittelfeld mit Substanz“ zu bestimmen, was aus einer sozialen Perspektive viel mit Vereinheitlichung, Absprachen und Standards zu tun hat und technisch mit Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität bestimmt werden kann. Oder einfacher: Weil die Daten in der Cloud liegen und von allen jederzeit von überall eingesehen und verändert werden können, darum braucht es eine gemeinsame Strategie, damit Zusammenarbeit gelingt. Er nennt das das „Handwerk des Teilens“, was vom Sound – gewollt oder ungewollt –nah an Peter Bieris „Handwerk der Freiheit“ liegt, also an einer reflexiven Handlungspraxis, die den Kopf im Himmel der Ideale und die Füße auf der Erde des Notwendigen hat. Wo soll also dieses Handwerk herkommen?

Eines ist sicher, ein Handwerk fällt nicht vom Himmel, es wird vielmehr gemacht. So wie Schule heute organisiert ist, lernen SchülerInnen nicht das Handwerk des Teilens, sondern das Handwerk der „Alleinarbeiten“ (Jöran): Allein arbeite man dann, wenn man Kontrolle behalten will, Kontrolle über Lernziele- und -inhalte, über methodische Formen der Prozess- und Prüfungsgestaltung sowie Kontrolle über die Illusion, was am Ende gelernt wurde, so könnte man sagen.

Was wäre also zu tun, um solche Kontrollüberzeugungen zu ändern? Man kann innovative Projekte an Schulen starten (Trojanisches Pferd, Katalysator), man kann die Fortbildung von LehrerInnen z.B. mit neuen Methoden und dem Begründungswissen von Jöran anreichern. Aber reicht das? Jöran betont in einem eigenen Blogbeitrag, dass „Schule unglaublich stabil ist“, viele Dinge sich also nicht oder unzureichend ändern; es hat den Anschein, als wolle sich „das System“ nicht in Richtung eines neuen Zustands hin verändern.

Ich habe drei Thesen, die man diskutieren könnte.

Zum ersten bin ich der festen Überzeugung, dass man Systeme, wie die Schule, nur dann ändern kann, wenn man AUCH den Ort berücksichtigt, wo sich das System selbst reproduziert, und das ist zumindest zum Teil die Referendariatsausbildung. Dort, in der zweiten Ausbildungsphase, werden angehende LehrerInnen auf Ihre Arbeitspraxis hin „geprägt“, nachhaltig geprägt, was manchmal nah an einer lebenslangen Schädigung liegt. Hier gilt es also, die AusbilderInnen (und die Leitungen) davon zu überzeugen, dass digitale Zusammenarbeit keine modische Methodenübung ist, sondern eine auch lustvolle Abgabe von Kontrolle zugunsten eines didaktischen Mehrwertes sein kann, der gerade durch den Kontrollverlust entsteht. Und das darf man nicht blutleer erklären oder gar „vermitteln“, sondern das muss in experimenteller Praxis erprobt, erfahren und langfristig eingeübt werden, denn: Man muss das Driften lernen, um eine neue und höherwertige Form der Kontrolle zu etablieren. Was mich zum zweiten Punkt bringt.

Ich glaube zum zweiten, dass das Mantra des Paradigmenwechsels (die großen Shifts), hier „gute“ Zusammenarbeit und dort „schlechte“ Alleinarbeit, Teil des Problems ist. Zwar ist es richtig, dass wir gerade für eine digitale Arbeitswelt fast völlig blank an methodischer Kompetenz sind, wie wir Zusammenarbeit organisieren, wir brauchen das also (Zusammenarbeit 4.0)! Aber: Wir sind auch völlig unzureichend vorbereitet auf intensive Formen der Alleinarbeit, die man ganz zweifellos in einer digitalen Arbeitswelt AUCH braucht; allein das akademische Studium besteht zu ca. 50% aus Alleinarbeit (dem Selbststudium, angeleitet und frei) und auch in der Arbeitswelt kann und sollte nicht alles in Form von Kooperation und Kollaboration stattfinden. Denn auch hier ist die tiefe Einzelarbeit sinnvoll, von Fall zu Fall, von Phase zu Phase, von Problem zu Problem. Wichtig ist also die „Wechselkompetenz“, wann welche Form der Arbeit funktional ist, das müssen wir lernen. Was mich zu einer dritten These führt.

Alle Formen der Arbeit und des Lernens sind gebunden an etwas sehr Schnödem (was man heute nicht mehr gerne hört): Disziplin! Ich kenne genügend Vorhaben oder Versprechen, in denen beim Start alle Feuer und Flamme sind, zusammenzuarbeiten, klar, was sonst?! Doch dann wartet man wieder Tage auf Rückmeldung oder die abgesprochenen Beiträge kommen erst weit nach der Deadline. Deadline, da stirbt im Übrigen keiner mehr, manchmal wachen die Leute erst auf. Disziplin kennt auch die Alleinarbeit, der innere Schweinehund ist eine gute Metapher für den inneren Gegenspieler, den man überwinden muss.  

Man merkt an diesen Thesen: Von einer Vereinseitigung halte ich wenig, Allein- und Zusammenarbeit gehören zusammen (Arbeitsformen), genauso wie Disziplin und Kontrollverlust (Tugenden) oder Ausbildung- und Fortbildung (institutionelle Settings). Das macht das Ganze auf den ersten Blick nicht leichter, weil es nach „mehr und unentschieden“ klingt. Ich denke aber, dass ein guter Teil der Reformkrisen (in Bildungssystemen) auf die Kappe von unterkomplexen Lösungsformeln geht. Klar, wir müssen alle „irgendwo anfangen“ (verführerisch einfach und eindeutig, um einen Fuß in der Tür zu haben), aber ich vermute, dass eine nachhaltige Vorgehensweise eher drin liegt, auf Widersprüchliches und Mehrdeutiges vorzubereiten und das auch von Anfang an zum Thema zu machen! Widersprüchliches und Mehrdeutiges nicht nur auszuhalten, sondern (gemeinsam) daran auch noch Spaß zu haben, das ist keine Unmöglichkeit, sondern eine echte Future Skill.

Pre-empathische Zusammenarbeit … what the hell?

In der ersten Kalenderwoche des neuen Jahres war ich in Zürich. Anstoß war ein LinkedIn-Werbevideo von Beat Döbeli Honegger & Jöran Muuß-Merholz, in dem die beiden auf das Buch „Zusammenarbeit 4.0“ von Jöran mit Vorstellung eben in Zürich aufmerksam machten. Ich dachte: Warum nicht?

Den Vorabend verbrachte ich mit Beat und Ben Hüter. Wir sprachen über Bildungspolitik, über Nichtneutralität von Lernumgebungen und über Bildungsservices zwischen Hochschule und Privatwirtschaft. Wenn man älter wird – wir sind in den 50ern -, dann gewinnt der Begriff der Ambivalenz (noch mehr) an Bedeutung.

Der nächste Morgen war geprägt von einem Fachgespräch zwischen Ben und mir. Auf der Agenda stand VR (Multiplayer) mit KI für den Kontext Berufsbildung. Hier geht viel Neues. Mich treibt das Thema der didaktischen Rahmung um: Warum und wofür VR genau? Für welches Problem oder zu welchem Zweck? Und nach dem ‚Eintauchen‘ kommt was? Wie ergänzt man dieses technologiegestützte Eintauchen mit dem Eintauchen in eine real-analoge Situation, mit Haut und Haar? In welchem Verhältnis steht Eintauchen zur Reflexion? Noch ein paar Fragen offen 😊, aber es wird!

Auf Hinweis von Klaus Eidenschink habe ich Zürich auch zum Besuch der Kunst-Ausstellung von Marina Abramović genutzt. Mich interessieren ‚Gefühle‘ und ‚Wahrnehmung‘ unter menschlich-existenzialem Gesichtspunkt, u.a. im Kontext der KI-Entwicklungen (the human core). Nur kurz und exemplarisch: Die primär performative Videokunst ist verstörend, dass ist gewollt. Man sieht eine schreiende Frau im Selbstexperiment, über 9 Stunden, bis die Stimme versagt. Man sieht eine Frau mit Menschenskelett auf dem Bauch, skurrile Intimität zwischen Körpern. Ich hatte das Glück bei einer Live-Performance dabei zu sein: Nackte, schöne Frau „schwebt“ auf einem Fahrradsattel sitzend an der weißen Wand. Nach dem ich die schöne Form hinter mir lassen konnte, „sah“ ich den Schattenwurf und ich (!) „spürte“ körperlich – schwitzend und herzklopfend – die enorme Körperanspannung der Künstlerin da an der Wand über endlose 20 Minuten. Ich dachte kurz: Frauen können das, schwebend, meditativ und würdevoll. Wir doch Jämmerlichen …

Zürich endete aber mit etwas sehr Weltlichem: Am späten Nachmittag dann die Vorstellung des Buches „Zusammenarbeit 4.0“. Nach gastfreundlicher Begrüßung durch Gabriela Keller und kurzweiliger Einleitung von Beat in den Räumen der ergon AG erläuterte Jöran seinen Ansatz „Pre-empathische Zusammenarbeit“. Ich habe es mit einem „Kant-Merker“ verstanden:

„Handle so, dass du dem anderen (und dir) keine unnötige Arbeit machst – auch nicht in der Zukunft“:

richtiger Dateiname, den auch andere im System wiederfinden, Meeting-Einladungen nur mit Agenda (Wer, Was, Wo, Warum) zur Orientierung und auch erst dann auf Senden klicken, gemeinsame Online-Docs statt isolierender e-Mail oder Chat-Silos. So ging es weiter, von der Mikro- bis zur Makroebene. Ich fühlte mich an beste Ghostthinker-Zeiten erinnert, da wurde diese Kultur fast 20 Jahre „kultiviert“. Im Anschluss dann Gruppendiskussion in reiner Informatiker-Runde (alles Männer). Ich sagte:

„Das ist alles vernünftig, weil rational. Doch was ist mit Personen, denen das Ganze den Hals zuschnürt, die nicht vollständig ‚Rationalitätstauglichen‘.“

Vier Informatiker-Augen schauen mich ratlos an, Jöran kannte das Problem, spricht von Risikoabwägung und Maßnahmenanpassung, weitere Rationalisierung „next level“. Mir ging es bei meiner Frage um Grundsätzliches (nicht Pragmatisches), um die schleichende „Formalisierung des Menschen“. Abramovićs Kunst kann man vor diesem Hintergrund auch als Mahnung lesen.

Wir bringen uns in Organisationen immer mehr mit rationalen Gründen, freiwillig „in Form“. Darin sind Wildheit, Gefühle, Wahrnehmung – the human core – Störenfriede. Ich denke, wir müssen hier noch mal RICHTIG nachdenken. Mich hätte wahrscheinlich am Ende ein Titel „emphatische Zusammenarbeit“ mehr inspiriert, nicht um Gefühlen ein Primat einzuräumen, sondern um den Horizont offen zu halten, wie wir den „Resonanzzwang des Menschen“ (Eidenschink) mit legitimen und nicht-legitimen Formierungen zusammen kriegen. Das ist die Art von „Zusammenarbeit“, die wir in einem Mensch-KI-Maschinen-Zeitalter stemmen müssen.

Der Mensch hält unendlich viel aus – wie die Frau an der Wand – er zerbricht aber auch unendlich leicht … meist still und leise.

Paradoxien und KI-Nutzung

Joscha Falck hat in einem Blogbeitrag https://lnkd.in/eJDYqeUb auf 9 Paradoxien im Umgang mit KI in der Schule aufmerksam gemacht. Das ist ein wichtiger Punkt, die Paradoxien, denn sie zeigen, dass Wohl und Wehe bei der KI-Nutzung in der Bildung (!) eng zusammen liegen. Das Neue ist also nicht gut oder schlecht sondern erzeugt mindestens zwei Seiten, die in Spannung stehen und die man aushalten muss (vgl. Antinomisches Prinzip).

Falck sagt: „Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen.“ Hier möchte ich ergänzen: Wir müssen uns in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als Lernende sondern als F o r s c h e n d e verstehen! Das hat Implikationen für das Mindset, Skillset und Toolset von SchülerInnen und LehrerInnen, der Administration, aber auch für WissenschaftlerInnen, die sich an dieser forschenden Praxis der Veränderung (schnell, komplex, reflexiv) hilfreich beteiligen möchten.