Querdenken

Wenn man noch vor einiger Zeit in etwa sagen wollte, dass jemand „um die Ecke oder gegen den Strich denken“ kann, wenn man zum Ausdruck bringen wollte, dass dieser jemand sich nicht vom Mainstream leiten lässt, sondern „out of the box“, also jenseits der Grenzen mental agiert, die alle anderen für akzeptiert und normal halten, dann sagte man, dieser jemand sei ein Querdenker. Für solche Menschen – selbstredend Frauen wie Männer – gibt es im Englischen den Ausdruck „Wild Duck“ (vgl. auch hier), was nochmal darauf verweist, dass diese geistig „Wilden“ Widersprüche herausfordern, was den Umgang mit ihnen nicht immer leicht macht.

In den Nullerjahren habe ich mich länger mit dem Thema „Querdenken“ beschäftigt: Zum einen hatte ich damals zusammen mit Hermann Rüppell einen Aufsatz über geistige Besonderheiten von erfinderischen Menschen geschrieben (DANTE), zum anderen ging es in meiner Dissertation um das Thema analoge Kommunikation, also den Gebrauch von passenden Vergleichen und analogen Sprachbildern für die Wissensarbeit zwischen den Disziplinen. Kurz: In meiner Zeit war der Begriff Querdenker für Menschen reserviert, die eine besondere Form von Kreativität besaßen und damit komplexe Probleme lösten, die am Ende alle weiterbrachten.

Heute ist das anders.

Der Begriff wurde über Nacht geklaut, verdreht und für Menschen reserviert, die das Corona-Virus leugnen, Verschwörungstheorien in die Welt setzen und Rechte Gewalt gutheißen. Aus der Warte der Kommunikationsstrategie muss man sagen: Das ist schlau gemacht, denn mit dem Begriff Querdenker grenzen sich solche Gruppen positiv gegenüber dem „vernebelten“ Mainstream ab, also all jenen, die noch nicht die „wirkliche Wahrheit hinter dem Vorhang“ erkennen können.

Nun darf man in diesem freien Land solche Begriffspiraterie betreiben. Was mich ärgert ist, dass die Medien Land auf Land ab diese Bezeichnung übernehmen und pflegen und dabei offenbar nicht merken, dass das den – ja wie nennen wir sie denn nur – in die Hände spielt. Heute darf jeder und jede, die rechts und esoterisch denkt und handelt, sagen, ich bin stolz ein Querdenker zu sein.

Oh Mann, wie weit sind wir damit weg von Querdenkern wie Leonardo da Vinci oder anderen Menschen, die quer durch alle Wissensgebiete Erfindungen gemacht und neue Gedanken zusammengetragen haben, wie weit weg von dem guten Grundgedanken des Querdenker-Clubs mit fast 400.000 Mitgliedern, in dem das laterale Denken gepflegt und Ideen für das Innovationsmanagement in Organisationen ausgetauscht wurden. Ob wir den Begriff nochmal drehen können? Ich glaube nicht, denn ab jetzt hängt am Begriff „die dunkle Seite“, den Geruch bekommt man nicht mehr weg. Also lassen wir ihn fallen und denken uns was Neues aus, dass dürfte ja den „Wild Ducks“ nicht so schwerfallen.

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