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Emergenz ist, wenn mehr raus kommt als man reingesteckt hat

Ich bin der Einladung von Peter Baumgartner zur Forschungswerkstatt „Emergenz“ nach Wien gefolgt. Von Wolfratshausen zum Westbahnhof sind das gut 10 Stunden Hin und Rückfahrt mit der Bahn – es hat sich gelohnt!

Ich habe in der Vorstellungsrunde gesagt, dass ich von Emergenz so wenig Ahnung habe, wie von Plasmaphysik, also keine. Das stimmt nur halb: Ahnung habe ich tatsächlich keine, aber interessieren tut es mich und aus jedem Interesse entwickelt sich mit der Zeit eine Art von Halbwissen, das man mehr oder weniger geschickt in seinen Alltag einbringt. Die Forschungswerkstatt hat in dieses Halbdunkel wenn nicht die Erleuchtung, aber doch deutlich mehr Licht gebracht. Wesentlich dazu beigetragen hat der special guest, Herr Prof. Götschl von der TU Graz. Weißes Haar, tiefe, sonorere Stimme, leichtfüßiges Bewegen über die Fächergrenzen hinweg, ihm hört man gerne zu … und das muss man auch! Während der Forschungswerkstatt hat er sicherlich über 100 Beispielen erzählt, um Abstraktes am Konkreten zu erläutern. Dieses „Pendeln“ zwischen Konkreten und Abstrakten hilft bekanntlich sehr, Sachverhalte zu verstehen und das Gehirn bei Laune zu halten.

Was ich inhaltlich gelernt habe, lässt sich schwer in Sätze fassen. Es geht um eine Verschiebung im Denken: wenn sich statische Betrachtungen (und Urteile!) zugunsten eines Prozessdenkens verschieben, wenn Ursache-Wirkungs-Ketten zirkulären Betrachtungen weichen, wenn die Suche nach Stabilität durch die Suche nach „sensitiven Bedingungen“ abgelöst wird. Was da raus kommt ist idealerweise ein Gespür für Veränderungen, Spontanes, Unvorhersehbares. Das ist nur für Menschen attraktiv, die das Neue freudig begrüßen. Neu ist das, was es so vorher nicht gab. Im Bereich der Bildung nennen wir das „Neugier auf sich selbst“ im Bereich der Gesellschaft nenne wir das Innovation. Beides brauchen wir.

Mich hat das Menschenbild hinter der Emergenztheorie angesprochen. Primat des persönlichen Wachstum, eingebunden in eine soziale Gemeinschaft – das klingt gut. Während der Forschungswerkstatt wurde ich jedoch einen Zweifel nicht los: Was nutzt es, wenn wir uns (wieder mit einem neuen, vielversprechenden Ansatz) aufmachen, um die Bildungspraxis zu verändern. Auch emergenztheoretisch "fundierte" Pilotprojekte in Schule, Hochschule und Weiterbildung werden erlahmen (These). Warum? Weil Organisationen Emergenz (wenn sie nicht müssen) meiden, Emergenz ist destabilisierend und das kostet (zunächst). Herr Prof. Götschl wollte diesen Satz beim Abendessen nicht so stehen lassen, … gut. Aber warum gibt es dann so wenig wirklich Neues in Bildungsorganisationen? (Man betrachte die letzten 100 Jahre) Hier ein Laptop, da eine interaktive Tafel oder eine Reform. Wenn die Wissenschaftler weg sind, dann wird in der Regel wieder Unterricht wie eh und je gemacht. Herr Götschl würde sagen, das System stabilsiert sich auf einem niederkomplexen Niveau. Ich habe bei dieser Kritik nicht die Lehrer im Visier, sondern (ganz emergenztheoretisch) das System, die Struktur.

Nun will ich nicht pessimistisch enden, dafür gibt es keinen Grund, zumal die Emergenztheorie Hilfestellung bietet: Erstens gibt es zur Emergenz gar keine Alternative, wer (als Person oder Organisation) nicht kreativ evolutioniert, der stirbt, zweitens führt Emergenz zu mehr Möglichkeiten, z.B. in Form von Kompetenzen, das schafft Sicherheit und (Selbst)Vertrauen und drittens fühlt sich Emergenz einfach gut an, weil wir mit uns in Übereinstimmung sind. Aus dem Abschlusgespräch habe ich im Ohr, was Prof. Götschl auch angesichts verkrusteter Bildungspraxis gesagt hat: Einfach Machen! Die Wahrscheinlichkeit der (systemischen) Veränderung steigt mit einem guten und gelungenen Beispiel enorm an! Denn Nachfolger gibt es nur, wenn einer den ersten Schritt macht. … Ja, da er wohl Recht und dem folgt man auch ohne emergenztheoretische Schulung.

Von Veröffentlicht am: 28. März 2010Kategorien: AllgemeinKommentare deaktiviert für Emergenz ist, wenn mehr raus kommt als man reingesteckt hat