Pathologie der Reflexion

Ich erinnere mich an schöne Sommertage, an denen ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Wenn die Luft im Stehen flimmert, dann macht der kühle Wind während der Fahrt besonders Freude. Manchmal, aber nur manchmal, erwische ich mich bei der reinen Unvernunft, dann wenn ich die Augen schließe, den Kopf in den Nacken fallen lasse, die Hände vom Lenkrad nehme und sie in die Horizontale strecke, wenn ich die angenehme Kühle auf der Haut und den Wind in den Haaren spüre. Dann verschmelze ich für einen kurzen Augenblick mit der Situation, meine sonst so rege arbeitende Ich-Instanz macht die Augen zu, Beobachter und zu Beobachtendes fällt in Eins. Ich „erfahre“ mich. Erst im Nachgang stelle ich fest, wie dumm es war, einfach die Augen zu schließen, es hätte was passieren können, ein Hund , ein Auto, ein Stein. Doch dann werfe ich meiner Kontrollinstanz einen frechen Blick zu und sage: … es war schön und ich tue es wieder.

Warum schreibe ich sowas? Vor zwei Tagen hatte ich ein gutes Gespräch mit Alex Florian und Tobias Jenert über „den Hintergrund des Seienden“, also ein Gespräch quer Beet und gar nicht so schwer wie es klingt. U.a. haben wir über die Grenzen von Reflexionen im Hochschulkontext gesprochen. Gegenwärtig hat man ja den Eindruck, als ob die technologiegestützte Reflexion via Blog, Portfolio etc. die Erfindung des neuen Jahrtausends ist, mit dessen Hilfe „alles besser wird“. Mit Tobias war ich mir dann auch schnell einig, dass die permanente Anstiftung zur Reflexion bei Studierenden auch! kontraproduktiv sein kann, weil zu viele und andauernde Reflexionen lähmend wirken – in diesem Zusammenhang fiel das sicherlich nicht ganz passende Stichwort „Pathologie“, also für unsere Belange ein krankhaftes Bewusstsein, das gar nicht mehr in der Lage ist, „bei der Sache zu sein“ und sich „ganz auf die Sache“ einzulassen. Was heißt das? Es kommt vor, dass Studenten/Innen – gerade in den beschleunigten und verdichteten BA/MA Studiengängen berichten, dass sie allerlei Dinge machen, aber wenig erfahren haben. Trotz guter oder bester Noten, trotz einem Berg von Hausarbeiten und Referaten und universitären Projekten will sich eine tiefe Befriedigung, ein Gefühl von „gemachter Erfahrung“ und damit auch Gelassenheit nicht einstellen, warum nur? Ich weiß darauf auch keine schnelle Antwort, aber es hat, glaube ich, etwas mit dem zu tun, von dem ich eingangs berichtete: Haare im Wind und verschmelzen mit der Situation.

Mir schießt bei diesem Thema F. Nietzsche durch den Kopf, seine „Zukunft der Bildungsanstalten“ sind immer noch zeitgemäß, meine ich. Nietzsche beschreibt hier seine „Studentenzeit“: (…) Wir versetzen uns in mitten in den Zustand eines jungen Studenten hinein, das heißt in einen Zustand, der, in der rastlosen und heftigen Bewegung der Gegenwart, geradezu etwas Unglaubwürdiges ist, und den man erlebt haben muß, um ein solches unbekümmertes Sich-Wiegen, ein solches dem Augenblick abgerungenes gleichsam zeitloses Behagen überhaupt für möglich zu halten. In diesem Zustand verlebe ich, zugleich mit einem gleichaltrigen Freund, ein Jahr in der Universitätsstadt Bonn am Rhein: ein Jahr, welches durch die Abwesenheit aller Pläne und Zwecke, losgelöst von allen Zukunftsabsichten, für meine jetzige Empfindung fast etwas Traumartiges an sich trägt, während dasselbe zu beiden Seiten, vorher und nachher, durch Zeiträume des Wachseins eingerahmt ist. (…) [F. Nietzsche, dtv, 1988, 652f.] „Sich-Wiegen“, „zeitloses Behagen“, „Abwesenheit aller Pläne und Zwecke“ … das liest sich in der Tat wie aus einer anderen Zeit, vielleicht auch wie aus einer anderen Welt.

Nur, was hat das alles mit „Reflexion (2.0) an Hochschulen“ zu tun? Mit der Frage, ob wir heute technologiegetrieben zu viel und über wenig Ertragreiches reflektieren oder genauer, einen zu eingeschränkten Reflexionsbegriff haben, der die unterschiedlichen Qualitäten der Erfahrungen, die wir als Menschen! potentiell machen können, nicht berücksichtigt. Ich weiß auf diese Frage auch keine schnelle Antwort, mich interessiert erst einmal das Phänomen auch wenn es nur Einzelbeobachtungen sind. Was aber auffällt ist, dass junge Studenten/Innen heute mit überschwänglicher Euphorie mit der Idee der Selbststeuerung konfrontiert werden, alles unter dem gut begründeten Dach des Lebenslangen Lernens. Selbststeuerung greift im Kern auf die oben angesprochene Reflexion zurück, die wiederum (in der aktuellen Lesart) auf metakognitive Steuerungsprozesse fußt: Ziele setzen können, Lernprozesse alleine oder in der Gruppe beobachten und steuern, Lernziele bewerten und Schlussfolgerungen für das weitere Lernen ziehen können. Man merkt schnell: Die aktuelle Reflexionsdebatte mit dem metakognitiven Steuerungskonzept im Schlepptau läuft Gefahr einen Erfahrung-Begriff zu favorisieren, der wenig Raum für Vorsprachliches und Ästhetisches hat.

Vorsprachliches und Ästhetisches? Ja, sicher! Worin liegt dann aber der Wert, gar der „Bildungs“-Wert einer solchen Erfahrung, die nicht immer in Gänze der Reflexion zugänglich ist? Folgt man den phänomenologischen Analysen (z.B. Schmidt-Millard, 1995), so sind solche Erfahrungen nämlich „die eigentlichen Fundamente im Weltbezug und konstituieren ‚das leibliche Selbst‘.“

„Leibliches Selbst“: Ich bin noch nicht soweit, dass ich den Zusammenhang von Erfahrung, Reflexion und eben das genannte leibliche Selbst genau vor mir habe, aber ich bin zuversichtlich, dass die eingangs geschilderten „Sinneserfahrungen“ und die im Nachgang reflexiv-rekonstruierten ästhetischen Zuschreibungen etwas damit zu tun haben. Hier aber noch mal die Frage: was ist der Bildungswert? Der liegt wohl darin, dass ich sagen kann, ICH habe das ERLEBT, ich BIN das ERLEBTE, ich habe ES sozusagen „im Blut“. Damit wird eines klar(er): Wer das sagen kann, der hat ein Stück Gelassenheit gewonnen, einen STANDPUNKT. Ich meine, wer „feste Persönlichkeiten“ für ein einigermaßen hartes Arbeitsleben nach dem Studium heranbilden möchte, der kommt an diesen Standpunktfragen mit einem weiten Erfahrungsbegriff und entsprechenden Möglichkeiten in der Hochschule nicht vorbei. Dahinter steckt eine entsprechende Reflexionskultur, die bewusst auch außerreflexive Erfahrung zulässt und fördert, beispielsweise im Spiel oder der schöpferischen Arbeit. Dass das alles nicht so schwer ist wie es klingt, sollte weiter oben deutlich geworden sein: … „es war schön und ich tue es wieder“, darüber kann man ja mal ordentlich „reflektieren“.