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ChatGPT und Critical Thinking als Zaubertrank
Die Bildungslandschaft ist durch ChatGPT in Aufruhr. Laut nachgedacht wird über den Einsatz von ChatGPT bei der Aufgabenerstellung und Aufgabenlösung, im Lernprozess und bei Prüfungen. Während die einen die neuen Möglichkeiten euphorisch ausloten, sind andere kritisch bis ablehnend. Auch Verbote werden ausgesprochen. Was sagt uns das?
ChatGPT „macht“ etwas mit unserem Bildungssystem, mit den Menschen, die darin wirken, mit deren Selbstverständnis und deren Routinen. Und das ist gut so, denn Reformen sind gefühlt noch nie „aus dem Inneren“ der Bildung gekommen, sondern durch Politik und Wirtschaft, also von „außen“ angestoßen, vielleicht auch „über Bande“ diktiert worden (vgl. Pisa, Bologna etc.).
Nun ist eine Reform aber kein Selbstzweck, sondern eine Antwort auf neue Anforderungen, die die Gesellschaft an das Bildungssystem stellt. Weil die Zukunft (die immer mit der Gegenwart beginnt) andere Anforderungen an MitarbeiterInnen hat als noch vor 50 Jahren, verlangt man von den Schulen und Hochschulen Anpassungen: AbsolventenInnen sollen fachkompetent sein, logo, vor allem aber kommunikativ, empathisch, kreativ, sie sollen sich in (MS)Teams wohl fühlen, um Probleme der Gesellschaft zu lösen. All diese an die Zukunft angepassten Eigenschaften nennt man „future skills“ (vgl. Ulf Ehlers) und wer will und vor allem kann dazu schon nein sagen?!
Was man jetzt im Zuge von ChatGPT immer stärker hört (z.B. hier), ist die Forderung nach „critical thinking“, ein wichtiger, wenn nicht zentraler Teil der future skills. Die Argumentation geht in etwa so: Wenn ChatGPT alle Prozesse der Wissens- und Produkterstellung „unterstützen“ kann, dann wird genau das passieren (~ Murphys Gesetz). Wenn es passiert, dann müssen die Menschen gut (~ kritisch) darin sein, (a) zu begründen, warum sie eine KI verwenden, (b) auszuwählen, welche KI sie nutzen, (c) wie sie die KI richtig verwenden und (d) mit welchen technisch-psychologischen Strategien sie sich gegen Fakes aller Art schützen. Die Tatsache, dass nicht mehr nachprüfbar ist, ob der Zuwachs an Wissen dem Autor oder dem Chatbot zuzurechnen ist, ist ein Problem, was uns aktuell nur deshalb so große Bauchschmerzen macht, weil es ins Herz unseres selbst verschuldeten Selektionsauftrags hineinragt.
Was ist aber nun dieses „critical thinking“, dieser Zaubertrank, welcher uns im Zeitalter der KI stark machen soll? Zum einen hat diese Denkform und Haltung etwas mit Distanznahme zu tun: sich von Informationen, Personen, Organisationen nicht einwickeln lassen, Abstand halten können zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“, um z.B. Täuschung zu erkennen. Das ist kognitiv, emotional und willensmäßig anspruchsvoll – im Zeitalter der Simulation eine große, vielleicht auch unmögliche Herausforderung. Zum anderen hat diese Denkform und Haltung etwas mit Zupacken zu tun: sich mit Elan und Verve einer Sache verschreiben, im Team unternehmerisch sein, was nicht zwingend was mit Geldverdienen zu tun hat, sich anstrengen und schmutzig machen, auch auf die Gefahr hin, dass man Schaden nimmt oder gar scheitert!
„Distanznahme“ und „Zupacken“, ein Widerspruch? Ich glaube nicht, eher etwas, was sich gegenseitig bedingt und konstituiert, in jedem Fall aber ein voraussetzungsreiches Ziel bzw. voraussetzungsreiche Ziele. Um solche Ziele annährend zu erreichen, braucht man geeignete Lern- und Lebensorte, z.B. Hochschulen. Hochschulen in Zeiten von KI werden anders sein müssen als die heutigen. Mit ein wenig „KI-Anwendung“ (wie kreativ auch immer) ist es eben gerade NICHT getan oder noch stärker: Damit dürfte die genuine Idee der Hochschule – als besondere Orte, die sich eine Gesellschaft leistet – verfehlt sein. Zieht man die beiden Zauberwörter Distanznahme und Zupacken nochmal heran, dann gilt es doch zunächst, nach der Schule die Distanzahme zu üben, d.h. sich auf die Antwortalternativen zu konzentrieren, welche die Hochschule und nur die Hochschule hervorbringen kann. In Kürze: Nur durch Distanznahme ist ein akademisches „Zupacken“ möglich und auch das muss man üben!
ChatGPT wird uns dazu zwingen, noch mal neu über Bildung nachzudenken, radikaler als früher. Hochschulbildung, vor allen Lehrerinnenausbildung, Managementausbildung und Ingenieursausbildung, stehen dabei in besonderer Verantwortung. Sie brauchen eine starke Idee, welche die Reform von innen vorantreibt, proaktiv, ohne die Stimmen der Außenwelt zu ignorieren.