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Welcher Wolf wird gewinnen?
Von Davide Brocchi habe ich mir eine Geschichte ausgeborgt: Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte. „Der Wolf, den du fütterst.“
So weit so gut. Die Geschichte könnte hier enden, so wie fast alle Kindergeschichten (im Übrigen auch alle Geschichten der Erwachsenen) enden: Hier DAS GUTE und dort DAS BÖSE. Man muss nur wissen, wo man steht. Doch ist es so einfach? Ich bezweifele das immer mehr, gerade in einer Welt, die sich durch Extrempositionen weiter aufspaltet.
Extrempositionen? Ja, man findet sie überall, egal ob es um Klima, Krieg, Inklusion oder Woke geht: Zu jedem Pro- gibt es einen Anti-Flügel, zu jedem radikalen X positioniert sich ein radikales Y, nicht selten mit bissig-abwertendem Sarkasmus vorgetragen. Thomas Bauer, ein deutscher Arabist und Islamwissenschaftler hatte das vor einiger Zeit in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ beschrieben und damit den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt kritisiert.
Wenn wir weiter daran Interesse haben sollten (haben wir?), dass säkulare und religiöse Diskurse friedlich nebeneinander koexistieren, dann müssen wir etwas tun! Und das hat viel mit dem eingangs erwähnten Dualismus von Gut und Böse zu tun, also einem vereinfachenden, vereindeutigenden Denken. Ich sehe zwei Ansätze; von Lösungen sind wir weit entfernt 😊.
Zum einen sollten wir uns in allen Bildungsinstitutionen (von Kindergarten über Hochschule bis Berufsbildung) nochmals und immer wieder mit dem Werte- und Entwicklungsquadranten von Hartmann/Schulz von Thun auseinandersetzen, denn darin ist ein wichtiger Mechanismus festgehalten, der uns vor Extrempositionen schützt, was anhand eines Beispiels einsichtig wird: Man stelle sich hierzu zwei Personen vor, die sich gegenseitig Vorwürfe machen: Person A sagt zu Person B, sie sei geizig; Person B sagt zu Person A sie sei verschwenderisch … ein unüberbrückbares Dilemma! Im Wertequadrant wird nun vorgeschlagen, das Wertvolle in den Extrempositionen zu entdecken und dies zum Ausgangspunkt einer neuen Betrachtung zu machen: Aus „schlechtem“ Geiz wird „erstrebenswerte“ Sparsamkeit, aus „schlechter“ Verschwendung wird „erstrebenswerte“ Großzügigkeit. Sparsamkeit und Großzügigkeit sind nun nicht mehr diametrale, sondern komplementäre Gegensätze, die „miteinander reden können“. Genau das ist der Punkt: Die verwerflichen Extrempositionen (des Guten zuviel) können in Tugenden überführt werden und die verwerflichen Extrempositionen finden in den Diagonalen eine interessante Entwicklungsperspektive, also etwas, wie man in Zukunft sein könnte! (vgl. auch Impact Free-Artikel von Gabi)
Zum anderen entstehen Extrempositionen nicht nur durch „falsches Denken“ oder vereinfachende Zuschreibung durch Individuen. Gerade in Sozialen Medien werden Extrempositionen durch Algorithmen verstärkt und verbreitet. Gut zu beobachten ist das aktuell bei Andrew Tate, der mit seinen provokanten Aussagen (u.a. Rassismus, Frauenfeindlichkeit) und Affiliate-Marketing fast 12 Milliarden (!) Video-Views bei Tiktok erzeugt oder erzeugen lässt. Hier kommt man mit „Individualmedizin“ nicht weiter, weil der Patient sich hartnäckig der Therapie verweigert. Gefragt wäre hier sowas wie eine „Algorithmen-Aufsicht“, um solche systemischen Effekte zu reduzieren, was zumindest auf EU-Ebene zu diskutieren wäre.
Am Ende will ich nochmal einen Blick auf die Wolfsgeschichte werfen: Ja, natürlich stimmt es, dass derjenige Wolf in mir wächst, den ich füttere. Aber: Mein Beitrag, zumal am bilanzierenden Jahresende, will nochmal etwas grundsätzlicher danach fragen, ob wir mit der Geschichte von Gut und Böse weiterkommen. Ich meine Nein. Der Werte- und Entwicklungsquadrant zeigt eine alternative DENK-Weise auf, die aber nur sehr unwillig in unsere Köpfe kommt. Die Algorithmen-Aufsicht lenkt den Blick weg von einer Zensur der Inhalte hin zu den Mechanismen, die unter der Haube „für Stimmung sorgen“.
In diesem Sinne … Ahoi für 2023, es wird besser!