“Wir werden Weltmeister”
Nur ganz kurz vorab: Ich kenne Sven Güldenpfennig aus meinem Sportstudium, als Autor zahlreicher Bücher, von denen ich einige mit großem Gewinn gelesen habe. Noch heute stehen die “Güldenpfennige” griffbereit. Bis auf weiteres kann man ihn als Sport- und Kulturwissenschaftler bezeichnen, mit Hang zur undisziplinierten Genauigkeit. In den letzten 20 Jahren hat er sich mit dem „Sinn des Sports“ beschäftigt: Haben wir eine Idee vom Sport, wenn wir über Sport reden? Die Antwort ist komplex, nachlesen kann man das in seinen Studien. Hier und heute soll es handfester zugehen. Ich habe Sven Güldenpfennig für einen Gastbeitrag gewinnen können. Es geht um die Fußball-WM in Brasilien, um eine Deutung dessen, was da los ist, was da los war, auf’n Platz. Was sieht man also, wenn man genau(er) beobachtet?
Wir werden Weltmeister: Wiedergeburt des Kampfsports Fußball. Beobachtungen bei der Fußball-WM in Brasilien 2014
(Gastbeitrag von Sven Güldenpfennig / PDF)
Die Weltspitze ist sehr eng zusammengerückt – allerdings auf sportlich niedrigerem Niveau, als es die seinerzeit dominanten Spanier bei den Europa- und Weltmeisterschaften seit 2008 verkörpert hatten. Die Spanier selbst beherrschten bei diesem Weltmeisterschafts-Endturnier das von ihnen kreierte Tiki Taka nicht mehr in jener Perfektion, die in diesem Sport allein erfolgversprechend sein kann. Und die anderen haben den Versuch, sich in diese Höhen der Spielkunst hinaufzuschwingen, offenbar resigniert abgebrochen. Das hat bei dieser WM zu einem Einheitsbild von mehr oder weniger (oft weniger) gelingenden Kombinationen zwischen Spielkunst und letztem kämpferischem Einsatz geführt. Wie ein ansonsten feinsinnig beobachtender Sportkommentator wie der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht [1] zu der Zwischenbilanz kommen konnte, die laufende WM werde „für ihre schönen Spiele gefeiert“ und es handele sich sportlich um „ein außergewöhnlich gutes Turnier” [2], wird sein Geheimnis bleiben.
Diese – zumindest vordergründig – sportlich eher enttäuschende Zwischenbilanz hat eine erfreuliche Kehrseite: Schon in der Vorrunde, bislang stets eher als zäher Aufgalopp für die kommende Gala der Favoriten wahrgenommen, erst recht aber in den folgenden K.o.-Runden sind dramatische und hart umkämpfte Begegnungen auf des Messers Schneide zustandegekommen, in denen die jeweils vorab ausersehenen Favoriten ebensogut hätten ausscheiden können – und mehrfach auch tatsächlich vorzeitig ausgeschieden sind, darunter schon frühzeitig Titelverteidiger Spanien, Italien, England, Portugal, Uruguay. Auch über den weiteren Turnierverlauf hin hat sich aufgrund der gezeigten Leistungen kein klarer Favorit herausgeschält, im Gegenteil: Auch die nach den Spielen der ersten K.o.-Runde im Turnier verbliebenen acht Mannschaften konnten durchweg von Glück sagen, dass sie sich trotz wenig überzeugender Leistungen gegen ebenbürtige Gegner durchsetzen konnten. Stets erschien es sogar so, als würde man sogar bis zur Vergabe des Titels nach einem würdigen Favoriten suchen müssen. Bis dann der Knalleffekt vom 8. Juli – der Kantersieg der deutschen Mannschaft gegen einen kurzzeitig desorientierten brasilianischen Gegner – alles auf den Kopf zu stellen schien.
Ungeachtet dieser unübersichtlichen – man könnte überspitzt sagen: fußballtypisch unberechenbar chaotischen – Lage wähnen Fans, Medienöffentlichkeit und die Mannschaften der jeweils noch verbliebenen Länderauswahlen durchweg das eigene Team als prädestiniert für den WM-Titel. Warum? Kaum einmal aufgrund sachverständiger Analyse der sportlichen Gegebenheiten. Fast immer hingegen aus dem Aberglauben an magische Kräfte, die aufgrund höherer Fügung allein „ihrem“ Team die Gunst erweisen werden. Zu dieser befremdlichen Erscheinung gehört auch hier wieder die bekannte – und in den Gesichtern fast aller überdeutlich ablesbare – Prädominanz eines fast vollständigen Desinteresses des Publikums gegenüber den sportlichen Seiten des Spielverlaufs und eines alleinigen, gnadenlos selektiven Interesses für den Erfolg der „eigenen“ Mannschaft. Und immer wieder einmal wird diese einseitige Parteinahme auch akustisch untermalt durch ein Dauerpfeifkonzert gegen die ballführende gegnerische Mannschaft. Sie wird – völlig sportsinnwidrig – offenbar nicht als unverzichtbarer Teil des Spiels, sondern als der Feind wahrgenommen, welcher der eigenen Mannschaft den allein ihr zustehenden Erfolg zu stehlen droht. So als könnte diese das Kunststück fertigbringen, allein auf dem Platz ein Wettbewerbs-Spiel aufzuführen. Die TV-Kommentatoren spielen dieses spielwidrige Theater mit, indem sie ständig die Bedeutung der Fans als des „zwölften Mannes“ betonen für – ja wofür? – nein, nicht für ein gelingendes Spiel, sondern für je eine Partei in dem Spiel. In allen Sportarten zwar sind die professionellen Ereignisse begleitet von engagiert parteinehmenden Beobachtern. In keiner Sportart jedoch nehmen sich die Fans in ihren Spielen am Rande derartig aufdringlich wichtiger als das Spiel auf dem Platz – und verweigern damit diesem Spiel selbst den ihm gebührenden Respekt. Pete Sampras hat einst auf dem heiligen Rasen von Wimbledon seine Begeisterung über den Sportsgeist des dortigen Publikums gerühmt mit den Worten: „Sie respektieren das Spiel.“
Diese gedankenlose Parteinahme ist unverkennbar in keinem Fall begründet mit einem sport-spezifischen Argument: weil nämlich das Team des eigenen Landes eine besonders innovative und zugleich erfolgversprechende Idee des Fußballs kreiert hat und praktisch umsetzt. Das war einst der Fall etwa mit dem jogo bonito der Brasilianer, dem wenn auch hässlichen catenaggio der Italiener, dem Wiener Donaufußball der 1930er Jahre oder dem totaal voetbal der Niederländer und dem daraus hervorgegangenen Tiki Taka der Spanier. Mit solchen Konzepten war der Dominanzanspruch sportintern legitimiert. Stattdessen jedoch wird jene Parteinahme gespeist aus weitaus trüberen Quellen: nämlich aus einer diffusen Hoffnung, sich mit dem Anspruch à la „Wir sind Papst“ krönen und in der Teilhabe an dem damit eingebildeten Prestige sonnen zu können.
Mit diesem Aspekt des Geschehens hängt eine noch weitergehende, besonders im Fußball in extreme Dimensionen ausgeweitete befremdliche Erscheinung zusammen: die in geradezu grotesker Weise überzogene, weil gänzlich sachfremde gesamtgesellschaftliche Bedeutung, die der WM bzw. dem finalen Erfolg bei einer WM über ihren unbestreitbaren sportlich-kulturellen Wert hinaus zugeschrieben, man möchte sagen: angedichtet wird. Aus dieser Unverhältnismäßigkeit resultiert eine unvermeidliche tiefe Depression bei all jenen, die sich diesem Hype hingegeben haben: Zwischendurch oder spätestens am Schluss sind sie schutzlos der „völlig unerwarteten“ (siehe Brasilien 1950 und erneut 2014, oder auch Ungarn 1954 und der 2014 unterlegene Finalgegner Argentinien), unangemessen übermächtigen Enttäuschung ausgesetzt, die sich bis in öffentliche Proteste steigern und in Ausschreitungen entladen kann. Durch diese Perspektivenverzerrung, welche den Blick auf den kulturellen Kern des Spielgeschehens verstellt, werden künstlich 31 verzweifelte Verlierer produziert, wo in Wahrheit 32 glückliche Gewinner als aktive Teilhaber und Mitgestalter gemeinsam durch harten sportlichen Kampf ein großes Ereignis geschaffen haben. Und der Weltmeister 2014 jedenfalls wurde – wie stets! – nicht aus sportfernen Hoffnungen geboren und – glücklicherweise! – auch nicht durch pures Glück (oder unglückliche Schiedsrichterentscheidungen) auf den Thron gehoben, sondern allein durch jene geringfügig überlegene sportliche Leistung, welche den kleinen Unterschied ausmachte.
Das deutsche Team hatte auch noch nach dem Viertelfinal-Match gegen die Franzosen ihre lauthals verkündete Anwartschaft auf den Titel aufrechterhalten können. Mit Hängen und Würgen. Im Halbfinale traf es auf eine brasilianische Seleção, die ebenfalls am Mikrofon mit den höchsten Ansprüchen angetreten, auf dem Platz jedoch bis dahin im Turnier nur mit mittelmäßigen Leistungen aufgetreten war. Ähnlich schließlich auch das Bild, welches die beiden weiteren Viertelfinal-Sieger Argentinien und Niederlande abgegeben haben. Weltmeisterlich ist anders. Ganz anders. Die Viertelfinals haben somit die eingangs skizzierten Tendenzen dieses WM-Turniers bestätigt. ARD-Reporter Tom Bartels jedoch jubelte unbeirrt vorsorglich schon einmal über ein „Traum-Halbfinale Brasilien – Deutschland“. Nun denn, dachte man: Träumen wir also weiter vom großen Fußball, wie ihn uns in der jüngeren Vergangenheit die Weltmeister Frankreich 1998 und Spanien 2010 vorgeführt haben.
Immerhin aber fiel trotz aller Abstriche doch eines auf: Ins Halbfinale haben es trotz allem schließlich doch genau diejenigen vier Mannschaften geschafft, welche schon vorab als die größten Favoriten gehandelt worden waren: Argentinien, Brasilien, Deutschland, Niederlande. Das mutet an wie die empirische Bestätigung einer sportlichen Normalität. Dass sich also diese scheinbare Normalität – wie von Zauberhand – schließlich durchgesetzt habe. Tatsächlich aber war es eher im Gegenteil das Ergebnis eines statistisch nicht wahrscheinlichen Zufalls. Denn auch in diesen Spielverläufen der Viertelfinals steckte genügend Potential für gegenteilige Ausgänge. Oder ist es am Ende des Tages dann doch die Bestätigung für die z.B. aus dem Tennis bekannte „Regel“, dass ebendies den Unterschied ausmache: dass der Champion in engen, hart umkämpften Situationen eben genau die wenigen entscheidenden Punkte, die Big Points mache?
Um das sportliche Markenzeichen, gleichsam den Grundtenor, den Cantus firmus dieser WM zu umschreiben, müsste man feststellen: Das Spiel erstaunlicherweise aller Mannschaften mutete an wie eine Palastrevolte: Man sah die schwindende Macht der scheinbar unerschütterlichen – zwar nur ästhetisch-schönen und folglich milden, aber sportlich umso unerbittlicheren – Diktatur, welche die katalanisch-spanische, die gleichsam „kataspanische“ (wie einst die „kakanische“, kaiserlich-königlich österreichisch-ungarische) Doppelmonarchie für Jahre über den Weltfußball errichtet und ausgeübt hatte. [3] Und man kehrte nach deren jähem Sturz geradezu lustvoll zu den geliebten, gewohnten alten und sportlich vermeintlich überholten, gestrigen Mustern zurück: Dominanz der Defensive, aus dieser heraus lange Pässe, längere Kontaktzeiten am Ball, Suche danach, „in die Zweikämpfe zu kommen“, Sich-Verlassen auf den Spielmacher im Zentrum des eigenen Spiels – mit dem Extrembeispiel Neymar, nach dessen Ausfall dem brasilianischen Team jegliches Selbstvertrauen abhandenkam. Durchweg also kehrten jene Muster als Spiel-Tugenden auf den Platz zurück, die im Ballbesitz-Fußball des Barça-Stils überaus verpönt und zu Spiel-Untugenden erklärt worden waren. Das Barça-Spanien-System schien den Schlüssel, das Sesam-öffne-Dich hinein in das Heiligtum des perfekten Spiels gefunden, nun aber im Umfeld der WM 2014 diesen Schlüssel verloren zu haben. Die anderen, welche trotz all ihrer Anstrengungen um die Lösung des Zugangs-Rätsels ausgeschlossen geblieben waren, begnügen sich offenkundig nun wieder damit, – lustvoll! – auf dem Vorplatz vor dem Sesam-Tor ihre Spiele auszutragen, sie wieder mehr auszukämpfen als auszuspielen. Bedeutet das für die Zukunft eine Verheißung? Oder eher einen Verlust? Ein Zurück aus der oder in die Zukunft eines glorreichen Fußballs? Skeptiker und Kritiker hatten schon seit längerem davor gewarnt, dass das Barça-System an der Grenze zur Perfektion des Fußballs eine historische Ausnahme bleiben müsse und keine Nachhaltigkeit erreichen könne. Denn es sei zum einen an eine außergewöhnliche Generation von Ausnahmespielern wie Xavi Hernandez und Andrés Iniesta gebunden. Und es erfordere zum anderen einen so übermäßigen Spiel- und Kombinationsaufwand, den kein Team auf Dauer ohne Ermüdungs- und Verschleiß-, ja Langeweile-Erscheinungen durchhalten könne.[4] Bewahrheitet sich vielleicht gerade diese Prophezeiung? Die Krise beim Urheber dieses Stils selbst ist ja bereits seit einiger Zeit unübersehbar.
„Wir kommen ins Finale“. Beschlossen und verkündet am Morgen des 8. Juli vor dem abendlichen Halbfinalspiel der deutschen Mannschaft, und zwar verkündet von der letztzuständigen Instanz: der Bild-Zeitung, notariell beglaubigt von „11 Experten“, die uns „erklären, warum wir heute Brasilien schlagen“. Die sportliche Ernsthaftigkeit dieser Titel-Schlagzeilen wird schon besiegelt mit der Karnevals-Zahl von 11 Jecken, die den „Elferrat“ bilden (oder war es als Anspielung auf die Fußball-Elf gemeint?). Solche Dummheiten des Boulevard-Journalismus wollen zwar nicht mehr als gewinnträchtig populäre Sehnsüchte bedienen. Aber sie verraten und verstärken zugleich auch ein groteskes Fehlverständnis der Sportidee, um deren Verwirklichung es bei einem z.B. Fußball-WM-Turnier doch vor allem gehen sollte. Oder liegt gerade in dieser Erwartung das eigentliche Missverständnis? In dieser Schlussfrage schlummert der Zündstoff für eine hochbrisante Grundsatzdebatte, die bislang noch nicht einmal eröffnet worden ist. Jedenfalls konnte man zum Ausgang des spektakulären 8. Juli festhalten: Alle (d.h. alle deutschen Fußballfans und Medien) haben es gewusst. Aber keiner hatte es erwartet. Logisch geht das zwar nicht zusammen, empirisch jedoch ohne weiteres. In dieser Paradoxie liegt das ganze Geheimnis des üblichen Fußballdiskurses: Das Hoffen auf das Gewünschte trägt einen epischen, einen ewigen Kampf aus mit der Einsicht in das Wahrscheinliche.
Immerhin hat Bild, ähnlich wie das Orakel Nasinho, mit ihrer trotzig verkündeten Prognose (oder war es eher eine Forderung?) für diesen Spieltag recht behalten. Ja, sie hat sich mit dem deutschen Kantersieg von 7:1 sogar in ihrem durchsichtig kalkulierenden Optimismus noch weit übertreffen lassen müssen. Plötzlich, wie bei einem Entfesselungskünstler, wie aus dem Nichts wurde man Zeuge einer radikalen Sprengung der Ketten von bisherigen 1:0-Siegen, Verlängerungen und Elfmeterschießen und hineinversetzt in den Taumel eines veritablen Torrausches. In keinen Sternen stand vor diesem Match geschrieben, dass die bisher in vier Spielen, vom Auftakt gegen Portugal abgesehen, wenig überzeugende deutsche Mannschaft ausgerechnet in ihrem vermeintlich schwersten Spiel das beste Match des gesamten Turniers bieten und das Gastgeber-Team innerhalb von nur sechs Minuten zwischen der 23. und 29. Minute in Grund und Boden spielen, förmlich auseinandernehmen und so demontieren würde wie einen gänzlich chancenlosen unterklassigen Gegner, obwohl das brasilianische Team bis dahin auf Augenhöhe agiert hatte.
Oben war von großem Fußball die Rede. Hier war er unversehens aufgeblitzt. War nun endlich doch der Favorit geboren? So schien es, sicher, aber eben doch nur für den Augenblick und nicht mehr. Denn auch dieses Spiel bestätigte nur einmal mehr die Grundeinsicht, die der abermalige Torschütze Thomas Müller gleich als erste Interviewstimme treffend und in seiner unnachahmlichen Schnoddrigkeit auf den Punkt brachte: „Da sieht man mal wieder, wie unterschiedlich Spiele laufen können.“ Die Grundeinsicht, die auch Julio Cesar, der entgeisterte Torwart der unterlegenen Mannschaft, nur in die stammelnden Worte fassen konnte: „Was ist heute passiert? Ich muss sagen: Ich kann es nicht erklären.“ So ist es. Denn so, genau so, ist Fußball: aufgrund der gesamten Spielkonstellation offen, ja geradezu prädisponiert für das Überraschende, Unvorhersehbare, sofern denn nur zwei vom sportlichen Potential her gleichrangige Gegner aufeinandertreffen. Das Mitreißende an dieser Halbfinal-Begegnung war mithin nicht primär der deutsche Triumph, sondern die Tatsache, dass jene Begegnung dieses in Durchschnittsbegegnungen so oft verborgen bleibende faszinierende Überraschungspotential endlich auch einmal so spektakulär freigesetzt hat. Es war mithin zuallererst ein Triumph des Spiels, dieses Spiels mit all seinen unvergleichlichen Eigentümlichkeiten.
Wer jedoch diese – bei aller heutigen Spieldisziplin unaufhebbare! – anarchische Grunddisposition des Fußballs zur „Gesetzlosigkeit“ aufzuheben versucht durch die Verkündigung vermeintlicher Gesetzmäßigkeiten, Vorhersehbarkeiten oder gar vermeintlicher Besitzansprüche auf Erfolge und Titel, begeht ein Sakrileg, einen Verrat an dem Kern der leitenden Idee dieses Sports. Und all jene unter den Zuschauern und Medien, welche das Spiel nur mit dem scheelen Blick wohlfeiler außersportlicher Begehrlichkeiten beobachten, rauben ebendiesem Spiel seine Seele – und damit sowohl seine kulturelle Botschaft wie seine allein darauf gestützte gesellschaftliche Relevanz. Der größtmögliche mentale Flurschaden, der mit einem solcherart beförderten Denken angerichtet wird, ist gar nicht auf Anhieb erkennbar und wirkt folglich unspektakulär, eher subkutan: Als Kotau vor dem fieberhaft herbeigewünschten Ergebnis zerstört diese Sichtweise den eigentlichen Reiz des Spiels: dass sein Ausgang bis zur letzten Sekunde weniger vorhersehbar ist als bei fast jedem anderen Sport. Nicht ein bestimmtes Ergebnis also, sondern ein sportlich gehaltvoller Verlauf hin zu diesem Ergebnis (das dadurch natürlich ebenfalls nicht unwichtig wird) rechtfertigt die herausgehobene Sonderstellung eines Ereignisses wie der Fußball-WM in der globalen Sport- und Kulturlandschaft einschließlich seiner politisch-ökonomischen Begleiterscheinungen. Ist diese Bedingung nicht gegeben, schrumpft das Ereignis zu einem bloßen Spektakel, welches keinen höheren gesellschaftlichen Respekt verdient. Der Scheck des öffentlichen Hypes um das Ereignis ist somit notorisch der Frage ausgesetzt, ob und inwieweit er tatsächlich durch diese Bedingung gedeckt ist.
Das deutsch-brasilianische Halbfinale bot sogar noch nach dem Abpfiff ein Lehrstück darüber, wo der wahre Sportsgeist weht und wo nicht. Während das brasilianische Team gnadenlos ausgepfiffen wurde – von seinen eigenen Fans aufgrund seines „Versagens“ und der Enttäuschung, die es ihnen zugemutet hatte –, erwies es der gegnerischen Mannschaft ohne Wenn und Aber seinen Respekt für die überlegene Leistung. Diese wiederum erwiderte diese Anerkennung in einem langanhaltenden „Nachspiel“ nicht etwa mit Gesten des überschäumenden Triumphs, sondern mit sichtlich berührten und berührenden Gesten des Mitgefühls für ihre abgrundtief über ihr sportliches Debakel enttäuschten Gegner. Die Botschaft dieser Szenen war eindeutig: „Wir haben euch zwar besiegt und das Scheitern eurer Träume besiegelt, und wir werden dafür statt eurer mit dem Einzug ins Finale belohnt. Aber wir beide waren trotz alledem gemeinsam Teil eines großen sportlichen Kampfes, ja, der Schöpfung eines außergewöhnlichen Werkes. Und wir bedauern nachträglich beinahe, dass das Glück diesmal so einseitig verteilt gewesen ist. Wir wissen nämlich aus bitteren Erfahrungen, dass es leicht auch umgekehrt ausgehen kann. Es gibt eben, insbesondere im Fußball, solche Tage, an denen der einen Seite alles gelingt und der anderen nichts. Das lässt sich dann meist ebensowenig erklären wie ändern. Das Pech eures nur wenige Minuten andauernden totalen Blackouts war unser Glück, das wir allerdings auch gekonnt beim Schopf ergriffen haben. Genau das ist die Abenteuerreise, auf welche wir alle Beteiligten uns mit jedem Anpfiff aufs Neue begeben: zwar nur ein Spiel, aber höchst riskant und mit höchstem Einsatz. Ohne Netz und doppelten Boden. Zusammen aber haben wir diesmal den Höhepunkt dieses Turniers geschaffen, der nur noch durch ein grandioses Finale überboten werden könnte.“
Auch im zweiten Halbfinale begegneten sich mit Argentinien und den Niederlanden zwei gleichrangige Teams, wo das eben Genannte, diese situativ auftretende extreme Ungleichheit, nicht geschah und sich deshalb das für dieses Turnier typische enge Match auf sportlich eher mäßigem Niveau entwickelte. Noch einmal: War das deutsche Team damit nun also doch der lange gesuchte Favorit? Wenn man die letzten, also die im Halbfinale gezeigten Leistungen zugrundelegt, hätte daran kaum ein Zweifel bestehen können. Aber eben: wenn … Jedenfalls, was bei Fußball-Weltmeisterschaften aufgrund der Fokussierung allein auf den Titel weithin geringgeschätzt und gern vergessen wird, würde es zunächst ein Spiel um den 3. Platz geben. In allen anderen Sportarten ein durchaus begehrter Rang. Warum also nicht auch im Fußball? Bei Wettbewerben auch in anderen Kulturbereichen wie Wissenschaft und Kunst begnügt man sich ja bei der Vergabe von Titeln und Preisen bisweilen sogar mit der Vergabe nur von 2. oder 3. Plätzen. In diesem Sinne haben sich die beiden in den Halbfinals unterlegenen Mannschaften mit ihren Auftritten nicht für die höchsten Ehren empfohlen und sollten entsprechend engagiert wenigstens um den 3. Platz ringen.
Die Szene für das Finale am 13. Juli 2014 schließlich erinnerte vorab erstaunlich deutlich an das Jahr 1990: Im Olympiastadion von Rom war der Endspielgegner Argentinien nicht stark genug gewesen, um die favorisierte Truppe von Teamchef Franz Beckenbauer in Verlegenheit zu bringen. Zumal Superstar Maradona von „Guiego“ Buchwald entzaubert und derart zur Wirkungslosigkeit verdammt worden war, dass ihm nach 1986 nicht einmal ein zweites Mal eine „Hand Gottes“ hatte zuwinken mögen. War es ein Omen für 2014, dass es damals trotz der deutschen Überlegenheit erst einer einzigen Szene, des Elfmeters von Andreas Brehme, bedurft hatte, damit der Favorit tatsächlich Weltmeister werden konnte?
Die Münchner Abendzeitung (AZ) machte bereits am Vortag des Finales auf mit der Schlagzeile „Wir sind schon Weltmeister“. Na, Glückwunsch an das Wir, welches diesen Sieg im Fernsehsessel, an den Redaktions- und Stammtischen erringt! Offensichtlich kann man also doch sportliche Erfolge und Titel herbeiwünschen und herbeischreiben. Oder hatten wir uns vertan und eben mit 1990 den falschen Vergleich heraufbeschworen? Das Endspiel Argentinien – Deutschland hatte ja vier Jahre zuvor schon einmal stattgefunden: 1986 gewann Argentinien, seinerzeit mit 3:2.
Unbeeindruckt von solcher krittelnden Mäkelei artete die Aussicht auf einen vierten deutschen Stern, welcher ja nach 1954, 1974 und 1994 (mit dem tatsächlichen WM-Jahr 1990 hatte es bekanntlich eine marginale Abweichung gegeben) sogar astrologisch oder gar mathematisch eindeutig vorgezeichnet war, Stunden vor dem Anpfiff aus zu einem regelrechten Überbietungswettbewerb abwärts auf Bild-Niveau: „Jetzt sind wir wieder dran“, meinte der Donaukurier. Ja, sogar die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) mit ihrem sonst peinlich genau beachteten Ehrenkodex des Qualitätsjournalismus entblödete sich nicht, über eine gesamte Titelseite hin ohne Worte der deutschen Mannschaft schon vor dem Anpfiff diesen vierten Stern aufs Trikot zu heften. Aber natürlich trug dann doch wieder die Bild-Zeitung den Sieg davon: „Am Sonntag gehört der Pokal uns“, titelte sie am Samstag. Widerliches Machgetöse um ein kulturelles Symbol! Denn etwas Anderes ist ein sportlicher Siegerpokal ja nicht. Kannten wir diese Töne nicht aus vergangen geglaubten unseligen Zeiten nach dem Motto „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“? Hier ging es zwar nicht um die ganze Welt, sondern nur um den Pokal der ganzen Fußballwelt. Aber allein schon vor der rhetorischen Assoziation hätte man, wenn man nicht gänzlich den Verstand verloren hat, zurückzucken müssen. Die anmaßende Forderung, das deutsche Volk habe aufgrund einer eingebildeten Fügung irgendwelcher höherer Mächte Sonderrechte innerhalb der Weltgemeinschaft zu beanspruchen, hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts derartige Verheerungen angerichtet, dass sich jegliche Wiederbelebung dieses Musters verbietet. Woher also nimmt – egal, wer – das Recht, den Sport dafür zu missbrauchen, um auf scheinbar harmlosem Feld en passand dennoch wieder solche Töne anschlagen zu dürfen? Nein. Was das „Gehören“ anbelangt, so gehört der WM-Pokal der FIFA als dem (wie auch immer umstrittenen, aber gleichwohl legitimen) Repräsentanten der Fußball-Weltgemeinschaft. Was den Völkern auf diesem Feld zukommt, ist, Auswahlmannschaften in den Wettbewerb um die auf einen WM-Zyklus befristete Überlassung dieses symbolischen Gutes zu schicken und auf deren erfolgreiches Abschneiden zu hoffen. Diese Konstellation ändert sich auch nicht dadurch, dass der Weltverband den Pokal dem Sieger ihres WM-Turniers vorübergehend treuhänderisch überlässt. Und „geholt“ oder gar durch Hand- (bzw. Fuß-)Streich erobert wie die politische oder militärische Macht wird ein solches Anerkennungssymbol für herausragende sportliche Leistung schon gar nicht.
Diese gesamte rhetorische Aufrüstung bedeutete nicht zuletzt eine besinnungslose Respektlosigkeit gegenüber den Hauptakteuren, den Spielern beider jeweils beteiligter Teams (dabei natürlich insbesondere des gegnerischen Teams!), die ja das Spiel erst spielen wollen und müssen, um auf dem Platz herauszufinden, wem nun tatsächlich „der Pokal gehört“. All diese Vorhersager und Vorherwünscher wollen mit ihren Beschwörungsritualen, welche an archaische Zauberrituale erinnern, genau das aufheben und außerkraftsetzen, was den wahren, den eigentlichen Zauber des Fußballs ausmacht, und es opfern auf dem Altar ihres außersportlichen Begehrens: der Selbstermächtigung in der Feier des siegreichen „Wir“. Beleg erwünscht? Bitte: Das erste Halbfinale, in dem „wir“ die Brasilianer so unerwartet deutlich geschlagen haben, sahen 34 Millionen Deutsche am Bildschirm. Das zweite Halbfinale, das sportlich genauso bedeutsam und vorab offen war, in dem „wir“ aber nichts zu gewinnen hatten, taten sich nur noch 400 000 unentwegte Zuschauer an – wahrscheinlich gerade sie der wirklich sportlich interessierte harte Kern, die wahren Fußball-Fans.
Jener Zauber des Fußballs aber – und selbst eine halbe Million Menschen auf den Straßen und Plätzen Berlins, die am 15. Juli die Rückkehr „ihrer“ Weltmeister stundenlang ausgelassen feierten, können diesen kulturellen Kern des Geschehens nicht aus der Welt schaffen, sie können ihn nur überdecken, dürfen ihn aber nicht gänzlich unsichtbar machen – liegt unaufgebbar gerade in seiner Unberechenbarkeit. Ein kluger Beobachter im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hat aus Anlass eines abfälligen amerikanischen Kommentars zur WM an genau diese Sonderstellung des Fußballs und seinen Gegensatz zu den amerikanischen Nationalsportarten erinnert: „Das Fußball-Regelwerk ist eindeutig nicht darauf ausgelegt, beste Bedingungen für die Besten zu schaffen, sondern darauf, den vermeintlich Unterlegenen möglichst große Chancen einzuräumen, um das Unmögliche möglich zu machen. Der Zufall wird also ganz absichtlich begünstigt. (…) Es kann einfach zu viel Unvorhergesehenes passieren. Manchmal sogar erst ganz am Schluss. Und das wiederum ist etwas vollkommen anderes als die Ermöglichung des Rechts auf Happiness der amerikanischen Verfassung. Die Niederlage ist im Fußball eher eine Ermutigung, es wieder zu probieren. Der Sieg hinterlässt das Gefühl, trotz aller Unwägbarkeiten noch mal davongekommen zu sein. Der zivilisatorische Fortschritt, den das bedeutet, ist kaum zu unterschätzen.“[5] Nach all dem Ballyhoo um die vorzeitige Titelvergabe musste man schon sehr resistent gegen Aberglauben sein, um in diesen leichtfertigen, ja sportlich gesehen dummdreist verteilten Vorschusslorbeeren kein böses Omen für den tatsächlichen Spielausgang des Finales zwischen Argentinien und Deutschland zu sehen. Und genau so geschah es dann auch wirklich. Bereits nach der ersten Halbzeit war für jedermann offensichtlich: Alle vermeintlichen Eindeutigkeiten zugunsten – „natürlich nur“ – der Deutschen war leeres Geschwätz gewesen. Man war zurückversetzt in den „Normalmodus“ dieses WM-Turniers und traf auf einen ebenbürtigen Gegner in einem Duell auf Biegen und Brechen. Die Chancen waren gleichverteilt, und gewinnen würde schließlich die Seite, welche den Willen, den Druck und die Risikobereitschaft im richtigen Augenblick am längsten würde aufrechterhalten können, nachdem von spielerischer Überlegenheit keine Rede mehr sein konnte. Bis weit in die Verlängerung hinein war nicht absehbar, wer von beiden das sein würde. Insofern war es ein würdiges Finale. Echter Fußball statt hirnlosem Gewäsch. Nach welcher Fußballregel auch hätte nicht auch eine andere Favoritenmannschaft als die deutsche zum Ende des Turniers hin ihr bestes Spiel machen sollen, wie dies den Argentiniern tatsächlich gelang?
Dass sich dann am Ende doch die deutsche Mannschaft als die im buchstäblichen Sinne glücklichere erwies, war das Ergebnis genau der gerade genannten Voraussetzungen: Die Entscheidung fiel durch ebendiesen einen kurz aufblitzenden Moment ganz großen Fußballs, der den kleinen Unterschied ausmachte. Dieser kleine Unterschied bestand aus zwei Teilen: einem Traumtor, welches durch die Koproduktion zwischen André Schürrles mit letzter Kraft durchgezogenem Flankenlauf auf dem linken Flügel und Mario „Lionel“ Götzes technisch perfektem Abschluss ermöglicht wurde; und einem schwach geschossenen letzten Freistoß von Lionel Messi, den er an besseren Tagen ebensogut hätte verwandeln und damit das Match in die Unwägbarkeiten des Elfmeterschießens hätte schicken können. Eine Entscheidung auf dem Platz also, nicht jedoch in den sportfernen Hohlköpfen von Dummschwätzern und auf den Schreibtischen von redaktionellen Amokläufern. Die Auguren und Sterndeuter allerdings hatten dann also doch noch rechtbehalten. Aber es waren die Spieler und eine gehörige Portion Fußballglück gewesen, welche den vierten Stern für Deutschland vom Himmel geholt hatten.
Neben dem Schützen des Siegtores und dem Schützen des finalen Nichtausgleichstores boten noch zwei weitere Spieler die komplementären Schlussbilder des Tages: Als die Symbolfigur des Triumphs des neu-alten Fußballstils, der Rückkehr zur ersten Silbe des Worts Kampf-Spiel, konnte sich der Schmerzensmann Bastian Schweinsteiger, gezeichnet von den Spuren eines Kampfes bis zum Letzten, nach dem Abpfiff kaum mehr vom Platz schleppen. Und die schier endlos traurigen Augen eines Lionel Messi besiegelten nicht nur die Niederlage in diesem einen Finalspiel, sondern zugleich den Abgesang auf eine Epoche, für deren strahlenden Stil kein anderer Spieler so symbolhaft steht wie dieser Weltfußballer im Trikot des FC Barcelona, der auch in diesem Finale wieder als einmal kaum mehr als ein Schatten seiner selbst aufgetreten war.
Wer aber vor lauter besinnungslosem Mitfiebern und anschließendem Begeisterungstaumel nicht richtig hingeschaut (oder sich nicht dafür interessiert) hatte während der Spiele, konnte spätestens am finalen Lob für den neuen Champion ablesen, was in den Arenen Brasiliens geschehen war: Die „goldene Generation“ deutscher Fußballspieler, die vor zehn Jahren angetreten war unter der Devise eines runderneuerten modernen Offensivfußballspiels, auf diesem ehrgeizigen Weg dann jedoch vom Spanien der Barça-Schule überholt, wurde nun vor allem anderen gerühmt für ihre gleichsam altdeutschen Tugenden, mit denen sie sich schließlich doch durchgesetzt hatte: Kampfgeist und Durchhaltewillen. Sie gewann mithin nach dem „Gesetz dieses WM-Turniers“, dessen kämpferischer Dichte in fast jedem Spiel sie damit buchstäblich die Krone aufsetzte. Aber wies sie damit auch den Weg in eine vielversprechende Zukunft des Fußballs? War also die hohe Schule des Barça-Stils schließlich doch nur ein Intermezzo gewesen? Oder bleibt sie eine Verheißung, an deren Weiterentwicklung auch in Zukunft weiter gearbeitet werden wird? Ja, haben wir vielleicht sogar nicht genau genug hingeschaut und haben diese Weiterentwicklung schon in Brasilien sehen können, weil dort keine einfache Rückkehr zum Kampsport Fußball stattgefunden hat, sondern – eben – eine Wiedergeburt als die nächste Stufe dieses Sports? Denn natürlich bedeutete gerade auch das Spiel des neuen Weltmeisters keine einfache Rückkehr zum deutschen Rumpelfußball der guten alten Zeit. Im Gegenteil: Es ist Fußball als intensiver Kampf auf zugleich hohem technischem und taktischem Niveau. Nur eben hat der Kampf wieder die Vorherrschaft über das Geschehen auf dem Platz zurückgewonnen, die er unter der kataspanischen Hegemonie an die Kunst des schönen Spiels hatte abtreten müssen.
[1] Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich (2005): Lob des Sports. Frankfurt am Main
[2] Gumbrecht, Hans Ulrich (2014): Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Wann ist Fußball schön? Und kann er hässlich sein? In: FAZ-Blog „Digital/Pausen“, www.zu.de/daily/zuruf/2014/07-02
[3] Vgl. Schulze-Marmeling, Dietrich (2010): Barça oder: Die Kunst des schönen Spiels. Göttingen; Güldenpfennig, Sven (2011): Auf’m Platz – und daneben. Das sportliche Kunstwerk im Ringen mit seinen Umwelten. Sankt Augustin. Kap. 1 („Barça. Die Kunst des schönen und erfolgreichen Fußballspiels“
[4] Der bereits zitierte Hans Ulrich Gumbrecht gehört zu den schärfsten Kritikern des Barça-Stils. Insofern kann sein oben zitiertes Lob der aktuellen WM als Feier des Abgesangs auf diesen Stil gelesen werden.
Lernwerkstatt 2014: Überall wird gebastelt
Gestern war ich (zusammen mit Johannes) auf der Peer- 2-Peer Lernwerkstatt in Augsburg. Einladende waren Sebastian Schlömer von houserconsult und Frieder Ittner von ISB, die sich einen intensiven Austausch rund ums Thema Lernen, von der Methode irgend etwas zwischen „Chaos und Struktur“, vorgenommen hatten. Dem folgt man ja gern.
Der Tag hatte fünf organisierte Blöcke mit Themensetzungen: Open Learning (Sebastian Schlömer), Scrum (Sebastian Schneider), Social Video Learning (die Ghostthinker), Internet-Geschäftsmodelle (Andreas Mittermayer), E-Learning in der Beratung (Christian). Das war dicht UND sehr interessant, was vor allem an den gut informierten, authentischen Leuten lag und am intelligenten MIX der Themen. Man gewinnt einen Eindruck von der Komplexität des Lernthemas, eben durch Oszillieren zwischen politischen-ökonomischen-pädagogischen-didaktischen-informationstechnischen-entwicklungstheoretischen-businessbezogenen-strategischen AN- und HERAUSFORDERUNGEN, von Startup bis Großunternehmen.
Man erfährt also auf diesen Lernwerkstätten so einiges, vor allem über sich selbst, über sein eigenes Denken, den Grenzen und Begrenzungen, die man unweigerlich mit jeder Sozialisation mittransportiert. Was ist das Gegenteil von „offen“? Geschlossen. Was ist das Gegenteil von „selbstorganisiert“? Fremdorganisiert. Was ist das Gegenteil von „kostenlos“? Kostenpflichtig. So denken wir in Dualismen, schauen das Neue mit dem Blicken der Vergangenheit an und, und, und. Vielleicht gehört zu Lernwerkstätten immer auch ein Nachdenken über das eigene Denken, „Better thinking about thinking“ sagt Michael Lissack. Epi-Thinking, ein Wesenskern von Lernwerkstätten?
Seb & Frieder, vielen Dank für die Organisation des gestrigen Tages, es hat sich gelohnt!
Spitzensport meets Spitzenunternehmen: Eine Familienfeier anderer Art
OK, die Überschrift ist vollmundig, aber so ist das nun mal, wenn …? Wenn man Aufmerksamkeit auf ein Ereignis lenken möchte, dass wir erstmalig in dieser Form veranstalten: Es geht um ein Webinar, dass ich zusammen mit Torsten Fell (wissenschafftwerte.ch) am 21.07.2014 um 15 Uhr veranstalte. Inhaltlich soll sich alles um das Thema Social Video Learning drehen und die Grundidee ist, dass die Unternehmen etwas vom Sport lernen können, vice versa. Im Zentrum der Auftaktveranstaltung steht dabei, wie das Medium Video im Trainernachwuchsbereich eingesetzt wird: Zur Dokumentation, Reflexion, Kommunikation, Kollaboration, ganz generell zur Wissensentwicklung und wie man die vielen PS auf die Straße bekommt, also zur Anwendung von Wissen. Dahinter kann man einen Wissenskreislauf sehen, so wie ihn wissenschaftlich Probst in den 90ern aufzeigte oder wie er anwendungsbezogen aktuell auch von adidas fokussiert wird – um Spitzenleistung und Talententwicklung geht es beiden Seiten. Unser Interesse im Webinar gilt den Umsetzungsbeispielen und konkreten didaktischen Szenarien, wie der Sport also diesen neuen Ansatz für das Talent-, Lern- und Wissensmanagement nutzt, um seine Probleme zu lösen. Wer Lust hat dabei zu sein, kann sich hier im Kommentar oder auf facebook melden.
Wir provozieren mit Stil
Gestern waren wir auf der Abi-Verleihung unseres Sohnes. Hurra, hurra. Die Note? Ist doch egal, die wird völlig überbewertet … sagt? Professor Rüppell aus Köln, bitte alle mal zum Dante-Test.
So eine Abi-Verleihung ist feierlich. Da kommen die Schülerinnen und Schüler in eleganten Kleidern und im eng geschnittenen Anzug: Alles zwischen Gala und Cosmopolitan, schrecklich-herrlich. Ach ja, wir sind in Bayern, Lederhose und Dirndl dürfen nicht fehlen. Assoziationen zum Oktoberfest poppen auf.
Ich muss gestehen, dass ich mit einigen Vorurteilen dort hingefahren bin. Generation Y, Konformität und so. Irgendwie war ich dann doch überrascht. Der Blick in die rund 130 Gesichter zeigte zumindest eines nicht: Konformität. Dirndl, Lederhose und Anzug, alles im bunten Mix, auch soundmäßig (das Abholen der Zeugnisse wurde mit selbst gewählter Musik begleitet) von The Stones bis Mr. Bombastic. Ein junger Mann, artig mit Fliege, hatte gar die Schuhe ausgezogen, um sein Zeugnis in Empfang zu nehmen. Wir provozieren mit Stil. Straße war gestern.
Es war meine erste Abi-Feier. Bei meiner eigenen hatte ich „keine Zeit“. Kehrt man nach 25 Jahren zurück in die Schule, tritt ein eigentümlicher Effekt ein: Das, was einem in den Knochen steckt, wird lebendig. Insofern: Schule wirkt fort, von Freude bis Trauer. Hört man den wahrscheinlich immer gleichen Reden des Bürgermeisters, Stadtrats und Sparkassenleiters (selten Innen) zu, den „guten Wünschen für die neue Lebensphase“, dann spürt man sie: die Zeit.
Vom Nürnberger Trichter zum Wolfratshausener Sprachrohr
Am Mittwoch war ich auf der Frühjahrstagung der DGWF in Bremen. Dem Geschäftsführer Herrn Dr. Lehmann konnte ich im Vorfeld zur Tagung per Skype etwas von Social Video Learning erzählen und das fand er spannend, sehr, zumal er sich schon seit den 90 Jahren mit ersten (technischen) Ansätzen der Videokommentierung beschäftigt. Aktuell kommt sein Unmut über MOOCs hinzu, über die „Videobeschallung“, deshalb fallen ihm Ansätze auf, die auf Interaktion setzen. Die Videokommentierung, zumal mit einer „Social“-Kompenente wie bei edubreak, kommt also gerade recht.
Den Auftakt zur Tagung machte Rolf Schulmeister. Die ZEITlast-Studie, Determinanten des Studienerfolgs und Blockunterricht. Tiefe empirische Analyse und Strukturinnovation kommen da zusammen. Man hört andächtig zu. Im Nachgang habe ich Rolf gesagt, dass er seine statistischen Grafiken auch in einer Kunstausstellung unter bekommen würde, „Ästhetik der Zahl“, meinte ich ganz ernst, … er hat gelächelt, milde ;-).
Etwas später hat ein Professor von der Steinbeiss-Uni eine Art Totalmodellierung, Lehmann sagte „Engeneering“, zur Studiengangsplanung an die Wand geworfen. Ich war beeindruckt, aber auch verschreckt, läuft doch das betriebswirtschaftliche Kalkül immer Gefahr, den Systemzweck, die Bildung, zu trivialisieren. Das Moment der Freiheit lässt sich bis auf weiteres nicht vermessen.
Nach so viel „Meta“ war ich dran. Versprochen hatte ich Innenansichten, eben zum Social Video Learning. Dieses Mal hatte ich meine Grundlagenfolien um didaktische Szenarien ergänzt: Fallcoaching und e-Portfolioarbeit, Qualitätsentwicklung und Kooperation sowie Videoprüfung „ganz ohne Angst“. Ich denke. der zahlenlose Impuls war ein gutes Komplement zu den anderen Beiträgen.
Wolfratshausener Sprachrohre? Ja. Vor ca. 6 Wochen habe ich mit Herrn Olschewski telefoniert, ein Comic-Zeichner vom Ammersee. Der hatte seit Jahren eine schöne Zeichnung vom Nürnberger Trichter im Netz, die ich genutzt habe, um unseren edubreak-Ansatz abzugrenzen. Ich habe diesen (Nürnberger) Trichter nun konzeptionell ergänzt und … umfunktioniert, eben zu Sprachrohren, die die Kinder zur Kommunikation verwenden, „reframe learning“ nennen wir Ghostthinker das. Herr Olschewski aus Dießen hat diesen Vorschlag zur Bildergänzung ganz wunderbar gestaltet, finde ich (© Bild Olschewski).
Einfach Knopf drücken
Der Kern unserer Arbeit bei Ghostthinker besteht darin, Menschen in Bildungsorganisationen (insbesondere Sport) für „Social Video Learning“ zu begeistern und ihnen bei der tatsächlichen Umsetzung zu helfen, kurz: dass sie Videos drehen (auch Videos, auf denen sie selber zu sehen sind), dass sie Videos kommentieren (kommentieren heißt interpretieren) und dass sie Videokommentare von anderen kommentieren (re-kommentieren heißt aushandeln). Wenn man will, dann kann man in dieser „Videoarbeit“ bedeutsame Lernmöglichkeiten entdecken, angefangen von der Beobachtung zweiter Ordnung, über die Explikation von implizitem Wissen und das identitätsstiftende Aushandeln von Meinungen bis zur Schaffung von organisationaler Kohärenz. Das steckt also alles da drin, in diesem Social Video Learning – potenziell!
Zwischen dem Potenzial und der Realität gibt es freilich eine Kluft. Die ist in Sportkontexten klein, weil die Videokamera ein „Freund“ aller TrainerInnen ist, die bei der Beobachtung hilft. In universitären Kontexten ist die Kluft mittelgroß, weil das Thema Lernen „an sich“ dazu gehört und man sich mit guten Gründen nicht verweigern kann. In Ärztekontexten ist die Kluft z.B. groß, weil Ärzte berufsbedingt an eine Nullfehler-Kultur glauben (müssen), was aber den selbstreflexiven Umgang mit Fehlern und Videokamera erschwert.
In der Forschungswerkstatt von Peter Baumgarten haben wir über dieses Thema gesprochen, über den Umgang mit Videos, über die Bereitschaft (oder auch Verweigerung), Videos auch in informellen Situationen zu drehen. In Verlängerung hätten wir auch über die Bereitschaft sprechen können, warum man Videokommentare macht oder eben nicht. Das ist ein psychologisch interessanter Punkt, denn rein technisch ist es ja kein Ding, den Knopf zu drücken.
Nun ist die „Unlust zur Kommentierung“ nichts Neues. Man schaue sich nur die Weblogs an (selbst die wissenschaftlichen): Man erkennt, dass es nur Vereinzelte tun, im Übrigen Wiederholungstäter. Es sind diejenigen, die bereits im Netz unterwegs sind. Wer schweigt, der schweigt auch hier, wohlbegründet, interessenlos oder aus Angst.
Ich glaube, einer der wesentlichen Punkte beim Thema Kommentierung ist Vertrauen. Deshalb vermute ich in offenen Lernumgebungen weniger Kommentare als in geschlossenen. Ein anderer wesentlicher Punkt ist der Grad an Selbstzentrierung: Ganz schwer sind Bewerbungsvideos, in denen sich z.B. Schüler selber sehen und gegenüber einer sozialen Norm rechtfertigen müssen. Gut gehen Videos von Sportlern im Trainerkontext, in denen z.B. der Umgang mit einem Ball oder einem Schläger im Zentrum steht. Zwar sind die Akteure abgebildet, aber die Persönlichkeit steht nicht auf dem Spiel, sie ist dezentriert. Entsprechend leicht von der Hand gehen Videos, in denen z.B. nur Finger oder gar die Power-Point-Folien zu sehen sind.
Und was ist mit der Bereitschaft, Videokommentare zu erstellen? Ich dachte erst, dass die Bereitschaft zur Kommentierung in einem inversen Verhältnis zur Selbstzentrierung steht. Aber das ist Quatsch. Erklärvideos werden kommentiert und auch eigene Vortragsvideos werden kommentiert, nur: Man muss gut darauf achten, dass die Inhalte etwas mit den Personen zu tun haben, die kommentieren sollen. „Zu tun haben“, die Schweizer sagen „es törnt mich an“. Dieses Antörnen ist aber hier anders gemeint als z.B. bei einem Werbevideo, indem alle Antworten bereits gegeben sind. „Antörnen“ im Kontext der Videokommentierung ruft nach Video-Situationen, die zu mir sprechen, mich fordern, die Klappe auf zu machen, mit Fragen, Antworten, Widerspruch, Zustimmung. Mich mit den Videosituationen „in ein (reflexives) Sprachverhältnis“ zu setzen, alleine oder mit anderen, darum geht es und deshalb hat Social Video Learning auch viel mit Bildung zu tun. Zumindest potenziell.